Rezension von Gerhard Keiderling


Vom Schicksal eines „Schumacher-Agenten”

Dieter Rieke: Geliebtes Leben
Erlebtes und Ertragenes zwischen den Mahlsteinen jüngster
deutscher Geschichte.
Mit einem Geleitwort von Hans-Jochen Vogel.
Berlin Verlag Arno Spitz, Berlin 1999, 310 S.

Krank kam im Herbst 1944 der neunzehnjährige Dieter Rieke von der Westfront zurück. In Gardelegen/Altmark erlebte er das Kriegsende, die amerikanische und dann die sowjetische Besatzung. In der neuen Kreisverwaltung fand er einen Broterwerb und in der jungen Ortsgruppe der SPD eine politische Heimat. Als die kommunistische Einheitskampagne einsetzte und der Politoffizier in der Militärkommandantur täglich Erfolgsmeldungen erwartete, suchten die Sozialdemokraten nach Information und Orientierung. Hannover lag näher als die Provinzhauptstadt Halle oder gar die Berliner Parteizentrale, und so fuhr man wiederholt über die „grüne Grenze”, um beim „Büro Schumacher” Rat und Zeitungen zu holen. Der monatelange Druck zermürbte die Sozialdemokraten an der Frage: „Mitmachen bei allem, was da kommt, oder Gegnerschaft bis zur Selbstaufgabe?” Da er sich zur Flucht in den Westen nicht entschließen konnte, machte Rieke die Zwangsvereinigung widerstrebend mit, hielt aber die geheimen Kontakte nach Hannover aufrecht.

Das im April 1946 gebildete „Ostbüro der SPD” setzte sich zunächst die Aufgabe, bedrohten Sozialdemokraten und deren Familien in der SBZ materiell zu helfen, und ging dann dazu über, Informationsmaterial einzuschleusen und Widerstandskreise zu betreuen. Damit geriet es ins Visier des sowjetischen Geheimdienstes NKWD/MWD und seiner Militärjustiz. Die Jagd nach den „Schumacher-Agenten” wurde erleichtert durch die Unbekümmertheit mancher „Ostbüro”-Kuriere. Rieke schildert einen solchen Vorfall, der ihm beinahe schon zum Verhängnis geworden wäre. Eines Nachts hielt ein Lkw vor seinem Wohnhaus in der Kleinstadt Gardelegen; während ein Kurier große Pakete mit Zeitungen und Schriften ablud, malte der andere mit weißer Farbe die Buchstaben „SPD” aufs Pflaster. Solch Dilettantismus, wohl aus mangelnder Erfahrung im konspirativen Kampf zwischen 1933 und 1945 resultierend, lieferte viele ans Messer. Zwischen Sommer 1947 und Frühjahr 1948 brachen die Sowjets mit äußerster Brutalität den sozialdemokratischen Widerstand in der SBZ.

Dieter Rieke wurde am 4. Mai 1948 in seinem Büro in der Kreisverwaltung Gardelegen von NKWD-Leuten verhaftet. Es begann ein qualvoller Leidensweg vom „Roten Ochsen” in Halle ins gefürchtete NKWD-Gefängnis von Berlin-Hohenschönhausen. Im April 1949 wurde er einem sowjetischen Militärtribunal vorgeführt, das ihm ein ungeheures Strafmaß zudiktierte: 25 Jahre Freiheitsentzug. Damals war Dieter Rieke gerade 23 Jahre alt. Zur Abbüßung der Strafe kam er ins „Gelbe Elend” von Bautzen. Er schildert die unmenschlichen Haftbedingungen, die sich nicht änderten, nachdem die Sowjets die Leitung der Anstalt den DDR-Justizorganen übergeben hatten. Im März/April 1950 kam es deshalb zu einer Gefangenenrevolte, zu einem „Aufstand der Verzweifelten”, der von der Volkspolizei mit großer Brutalität niedergeschlagen wurde.

Als Dieter Rieke im Dezember 1956 endlich freikam, ging er in die Bundesrepublik. Als Journalist arbeitete er hier für seine Partei. Seine bitteren Erfahrungen in der SBZ/DDR teilte er einer breiten Öffentlichkeit mit. Nach dem Ende der DDR erfuhr er bei der Einsicht in seine Akten, die heute in der Gauck-Behörde liegen, daß ihn die Stasi nach dem Motto: „Ein Schumacher-Agent bleibt immer gefährlich” all die Jahre in der BRD und erst recht bei Reisen in die DDR „operativ” beobachten ließ.

Am Ende seines Lebensberichtes fragt Dieter Rieke: Was bleibt von diesem dunklen Kapitel jüngster deutscher Geschichte unter kommunistischer Herrschaft, wenn die Erinnerungen mehr und mehr verblassen werden? Seine Antwort: „Ich mache mir keine Illusionen, wenn ich daran denke, daß der Gang der sich weiter vollziehenden Entwicklung die Narben verdecken und eines Tages niemand mehr danach fragen wird, auf welcher Seite er gestanden hat - als Täter oder Opfer, analog dem Abschnitt der Nazi-Zeit.” Deshalb drängte es ihn, das Erlebte und Ertragene niederzuschreiben, weil man es nicht vergessen darf. Sein „mit Herzblut geschriebenes” Buch ist ein wichtiger autobiographischer Beitrag zur Aufhellung der politischen Verfolgung in der SBZ/DDR.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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