Rezension von Kurt Wernicke


Besinnung auf Traditionslinien

Geschichte der Brandenburgischen Landtage
Von den Anfängen 1823 bis in die Gegenwart.
Herausgegeben von Kurt Adamy und Kristina Hübener in Verbindung mit dem Brandenburgischen Landeshauptarchiv, Potsdam
Verlag für Berlin-Brandenburg, Potsdam 1998, 406 S.

Es ist eine weit verbreitete und durchaus zu begrüßende Sitte, daß sich Institutionen und Organisationen der Tatsache besinnen, daß sie eine Geschichte haben, und sich dieser zuwenden. Daß das 1990 wiedererstandene (Bundes-)Land Brandenburg eine parlamentarische Vertretungskörperschaft namens Landtag hat, stellt das Bundesland in eine Reihe mit zwölf anderen Flächenländern im föderalen Aufbau der Bundesrepublik. Sie alle besitzen Landtage, aber da eine merkliche Anzahl dieser Flächenländer keineswegs auf eine Jahrhunderte währende Identität als territoriale Einheit zurückblicken kann (neben Brandenburg eigentlich nur Bayern, Sachsen, Schleswig-Holstein - und allenfalls das um Vorpommern erweiterte Mecklenburg), haben es die dortigen Landtage nicht gerade leicht, eine eigene durchgehende Traditionslinie darzubieten. Wenn der brandenburgische Landtag mit diesem Pfund wuchern möchte, sei ihm das vergönnt. Mit staatsrechtlichen Kriterien darf man die im Vorliegenden gebotene Traditionslinie allerdings nicht allzu genau unter die Lupe nehmen: daß eine Einrichtung L a n d t a g heißt, sagt noch nichts über ihre Legitimation und ihren Zweck. So muß sich der Leser fragen, warum die Anfänge der Institution mit der Einrichtung des ständischen Provinziallandtages durch das Gesetz von 1823 gesetzt werden - und warum denn nicht mit dem nun wirklich allerersten Landtag der Mark Brandenburg im Jahre 1345? Der letztere war schließlich auch eine Vertretungskörperschaft der Stände, wenn die Standschaft auch 1345 durch Adel, Geistlichkeit und Städte, 1823 dagegen durch Adel, Städte und Bauernschaft definiert wurde! Auch klaffen die äußerst beschränkte Kompetenz der diversen Provinziallandtage bis 1933 und die Kompetenz des auf der Grundlage einer - wie immer zu beurteilenden - Landesverfassung tätigen Landtages, der 1946 gewählt worden war, himmelweit auseinander. Das gilt gleich ganz für die auf der Basis der Landesverfassung von 1992 wirkenden brandenburgischen Landtage: Bei einem Vergleich bleibt wirklich nur der identische Name übrig ...

Sieht man von diesen grundsätzlichen Überlegungen zur nicht unumstrittenen Konstruktion einer Traditionslinie ab, bieten die neun Autoren der deskriptiven Kapitel eine Vielzahl sachlicher Informationen - nicht allein zu dem im Titel angesprochenen Thema, sondern dankenswerterweise darüber hinaus zu den wesentlichen Zügen der Verwaltungsgeschichte in den ostelbischen Provinzen des preußischen Gesamtstaats, die man sich ansonsten aus allen möglichen Handbüchern mühsam zusammensuchen muß. Für die Berlin betreffende Historiographie ist weniger der Unterabschnitt „Zur Stellung Berlins nach der Provinzialordnung” im Kapitel über den Provinziallandtag im Kaiserreich oder der Abschnitt „Groß-Berlin und die Provinz” im Kapitel über die Zeit von 1919 bis 1945 von Interesse (die Vorgänge, Protagonisten und Widerstände sind in allen Standardwerken präsent, und auch in Publikationen des Luisenstädtischen Bildungsvereins ist dazu publiziert worden, vgl. z. B. in der „Berlinischen Monatsschrift” G. Möschner in Heft 4/1992 und 6/1993 sowie K. Wernicke in Heft 5/1996), als vielmehr eine erste namentliche Auflistung der jeweils drei von Berlin zu entsendenden Vertreter in den auf der Basis des Gesetzes von 1823 zwischen 1824 und 1873 zusammengetretenen Provinziallandtagen: Berlin mußte sich übrigens nach der 1823 festgelegten Schlüsselzahl - als die Stadt 210 000 Einwohner zählte - trotz seiner unübersehbaren Bevölkerungsexplosion (1873 eine Million Einwohner!) während der Dauer seiner Inkorporation in den ständischen Provinziallandtag immer mit d r e i Abgeordneten bescheiden und bot so ein schönes Beispiel dafür, wie die stete Rücksicht auf die agrarischen Grundbesitzer und deren zähe Verteidigung ihrer Vorrechte über die ganze Zeit der Industriellen Revolution den politisch-administrativen Reformbedarf in Ostelbien um Jahrzehnte verzögerte.

Sehr gut wird zu diesem Thema im ersten Kapitel von F. Beck herausgearbeitet, wie der wesentliche Impuls zu einer Modernisierung der Gemeinde-, Kreis- und Provinzialordnungen, der der Revolution von 1848/49 entsprang, trotz mancher guter Absichten und Ansätze der für nötige Reformen nicht unempfindlichen hohen Bürokratie vor dem sturen klassenegoistischen Widerstand der Konservativen versandete. M. Leps ist ausdrücklich Dank zu sagen für die wörtliche Mitteilung jener Stellungnahme des Oberpräsidenten Alfred v. Conrad (1852-1914), die er am 19. Februar 1912 an die preußische Staatsregierung zur von Berlin betriebenen Eingemeindung Treptows ablieferte; denn selten ist so unverblümt wie in diesem internen Papier ausgesprochen worden, warum die preußischen Konservativen mit allen Mitteln eine Einheitsgemeinde Groß-Berlin zu verhindern sich verschworen hatten: die Eingemeindung der östlichen Vororte werde zu einer Proletarisierung der Reichshauptstadt führen und sie wahrscheinlich „unter das Regiment einer sozialdemokratischen Stadtverordnetenversammlung in derselben Weise bringen, wie dies bei Neukölln schon jetzt leider zu erwarten ist”. Als Konsequenz bliebe dann der Aufbau eines Gegengewichts durch die Eingemeindung der westlich von Berlin gelegenen Vororte; das konnte man aber den Gutsbesitzern und ihrem Schweif in den Kreisen Niederbarnim und - ganz besonders - Teltow nicht zumuten, daß mit der Herauslösung der Vororte im Berliner Speckgürtel den betroffenen Landkreisen ihre potentesten Steuerzahler abhanden kämen!

Mit einigem Grimm liest man, wie die durch die Novemberrevolution zur Macht gelangte sozialdemokratische Preußen-Regierung den - im Gegensatz zum als Revolutionserrungenschaft gefeierten allgemeinen Wahlrecht - seit 1876 durch ein Auswahlverfahren der Kreistage zustande gekommenen wilhelminischen Landtag seelenruhig im Februar 1919 tagen und agieren ließ - zu einem Zeitpunkt, da die Spitzen der Sozialdemokratie mit aller Macht gegen die Rätebewegung vorgingen, sobald diese Macht ausüben wollte. Die ohne Zweifel mit Recht geübte Kritik an der an Krawallmacherei grenzenden parlamentarischen Tätigkeit der KPD-Landtagsfraktion im Provinziallandtag der Weimarer Republik fällt auffällig redundant aus gegenüber dem Abscheu vor den parlamentarischen Gepflogenheiten der Nazis - die Lektüre dieser Passagen mit ihrer ungleichen Verteilung von Schelte läßt den Eindruck aufkommen, da werde ein Sack geschlagen, aber ein Esel gemeint. Seit Erscheinen des Buches hat sich im Ergebnis der Wahlen von 1999 auch im brandenburgischen Landtag eine neue Situation ergeben, und bei einer Nachauflage hätte man es mit der Tatsache zu tun, daß auch auf der rechten Seite des Landesparlaments nunmehr eine Fraktion sitzt, der man - bei entsprechend bösem Willen - eine historische Belastung durch die Erinnerung an Krawallierer aus der Zeit der Weimarer Republik anzuhängen versucht sein könnte.

Mit zunehmendem Unmut verfolgt man dann im nächsten Kapitel („Das Land Brandenburg und der brandenburgische Landtag 1945-1952”) das Nachzeichnen jener Entwicklung, die aus dem ursprünglichen antifaschistischen Konsens von 1945-1947 mit einem relativ frischen politischen und parlamentarischen Leben angesichts der planmäßigen Bolschewisierung/Stalinisierung der SED seit 1948 in einen Prozeß der Machtmonopolisierung durch diese Partei - oder besser: durch deren Parteiapparat - mündete. Dieser Unmut hat keineswegs mit der Darstellung durch die Autoren zu tun, er ist vielmehr die Folge des Kennenlernens der nüchternen Fakten: Man darf gar nicht darüber nachdenken, wie viele durchaus aufbauwillige Kräfte durch diese Monopolisierung verprellt, verfolgt und vertrieben wurden, die - selbst angesichts der SED-Zielsetzung einer weitgehend homogenen Gesellschaft - durch ein Minimum an Toleranz gegenüber pluralen Interessenlagen statt der dann erlebten Öde ein durch das Wechselspiel von Widerspruch und Konsens interessantes politisches Leben garantiert hätten. Allerdings ist die im Kapitel durchscheinende Geringschätzung einer (aus welchen Gründen auch immer) von SED-Staatsrechtlern anvisierten Erweiterung der Landtagskompetenz über bloße Beschlußfassung hinaus auch zur Kontrolle der Umsetzung von Landtagsbeschlüssen durch die E x e k u t i v e nicht am Platze: Auch manches Geschehen in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung kann zu dem Gedanken verleiten, ob das Ideal der Montesquieuschen Gewaltenteilung in seiner Absolutheit - zumal in einer übernationalen, ja globalisierten Welt - für ewig als sakrosankt zu gelten hat ...

Den fünf deskriptiven Kapiteln ist eine knappe Literaturauswahl beigefügt. An dieser Auswahlbibliographie, die M. Zabel zusammengestellt hat, ist insofern Kritik zu üben, als ein wichtiges Standardwerk fehlt, nämlich der Grundriß der deutschen Verwaltungsgeschichte 1815-1945 in 22 Bänden, dessen Reihe A (Bd. 1-12) Preußen behandelt: Bd. 5 (1975) widmet sich mit der allen Bänden eigenen Akribie der Provinz Brandenburg! Ein weiterer Anhang bringt eine von K. Geßner erarbeitete Bestandsübersicht über die 197 Akten der Repositur 54 (Provinziallandtag) des Brandenburgischen Landeshauptarchivs. Ein Faksimile-Anhang, der Sitzungsprotokolle aus dem Jahre 1990 im Vorfeld des Wiedererstehens des Landes Brandenburg wiedergibt, dokumentiert u. a. die Anwesenheit beratender Spitzenfunktionäre aus Nordrhein-Westfalen und gibt so Kunde von dem massiven Anteil einer bestimmten Fraktion der politischen Elite dieses Bundeslandes an dem ganzen Prozeß. Die Faksimiles sind 1998 mit Sicherheit in aller Unschuld aufgenommen worden; inzwischen hat ihre Kenntnisnahme sensiblere Dimensionen erreicht, hat man doch seit neuestem in die 1990er Verbandelung der linken NRW-Prominenz und deren Landesbank mit den Potsdamer Lieblingskandidaten der Bonner SPD-Partei-Baracke intimeren Einblick gewonnen.

Ein Manko muß zu guter Letzt angemerkt werden: Selbst bei intensivstem Studium des vorliegenden Bandes konnte der Rezensent keine Antwort auf die Frage finden, wann denn die 1823 zugleich mit dem Provinziallandtag eingeführten Kommunallandtage für die historisch gewachsenen Entitäten Kurmark, Neumark, Altmark und Niederlausitz ihr Ende gefunden haben ...



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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