Rezension von Manfred Lemaire


Geliebter und kritisch gelobter Nachbar

Ulrich Wickert: Vom Glück, Franzose zu sein
Unglaubliche Geschichten aus einem unbekannten Land.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999, 240 S.

Dies ist Wickerts bisher bestes Buch. Sein schlechtestes war Freiheit, die ich fürchte. Der Staat entmachtet seine Bürger, 1995 bei Heyne (LeseZeichen 11/12 1995), ein Essay schon 1981 im Athenäum erschienen, vorgeblich überarbeitet, mit zu leichter Hand geschrieben, leider, denn das deutliche politische Engagement hätte mehr publizistischen Tiefgang verdient. Nun bekommen wir wieder den Frankophilen zu lesen, wie der durch Frankreich, die wunderbare Illusion (1989) sowie Und Gott schuf Paris (1993, beide bei Hoffmann und Campe) so angenehm bekannt geworden ist. Und wir bemerken eine sorgfältige, zugleich auch leichte Hand, die zu diesem Themenkreis paßt, ja für ihn notwendig erscheint. Wickert hat seine Feder heiter und mit Bedacht geführt. Er setzt sich nicht dem Verdacht aus, in Eile gewesen zu sein, die man ja manchen Büchern von Journalisten anmerkt, wie es auch bei der genannten „Freiheit” der Fall gewesen sein dürfte. Vergessen wir es, wir sind vom Autor danach mehrfach getröstet worden.

Das Buch ist gelungen, weil Wickert diesen klassischen Nachbarn der Deutschen offensichtlich sehr mag und aus hinreichend langem Augenschein gut kennt. Er sollte allerdings den Hinweis akzeptieren, daß es sich nicht für jeden Deutschen um ein unbekanntes Land handelt. Frankreich ist, ohne daß der Autor es andeutungsweise oder ausdrücklich sagt, sein geliebtes und gelobtes Land. So steht es zwischen den Zeilen. Und so darf er es auch mit dem geschärften Blick eines Freundes betrachten, dem Wahrheiten erlaubt sind, die einem indifferenten Betrachter weniger gut anstünden. Stets sind es freundliche oder sachlich mitgeteilte, nie sind es bissige oder gar bösartige Wahrheiten. Ein guter Schuß Ironie - leider in der deutschen Literatur und Publizistik wenig verbreitet - gehört bei Wickert ohnehin dazu.

Im Grunde handelt es sich bei dem ganzen Buch um Geschichten über die Franzosen, über ihre Art zu leben. Etwas Geschichte ist bei den Geschichtchen auch dabei. Wickert weist darauf hin, daß er mit diesen Leuten wirklich „die Franzosen” meint, nämlich „einen gewissen Typus, eben den mit dem Camembert, der Baguette und der Baskenmütze” (die tatsächlich immer weniger getragen wird, eher aus modischen denn aus politischen Gründen, was man auch daran erkennt, daß es im Berliner Lafayette-Kaufhaus in der Friedrichstraße weder eine üppige noch besonders sichtbare Auswahl zu kaufen gibt). In einem interessanten Ausflug in die Soziologie macht der Autor uns mit gemeinsamem Selbstverständnis und gemeinsamem Lebensentwurf der Bürger der République Française bekannt. Hierzu gehöre das unbeirrbare Festhalten an der „kulturellen Besonderheit”, der „exception culturelle”. Wenn es sie in Europa zu verteidigen gelte, „gehen die Franzosen auf die Barrikaden”. Sie beanspruchen für sich - darüber hinaus - als ein weitergehendes Recht die „exception française”, was man mit französische Besonderheit übersetzen kann, wie Wickert es tut, aber es gibt hier einen treffenderen, genaueren Begriff: französische Ausnahme.

Dazu lesen wir: „Die exception française als Lebensentwurf stellt sich gegen jene Gesellschaften, die sich nicht kulturell, sondern wirtschaftlich definieren, die sich als freie Marktwirtschaft bezeichnen oder die im Zeichen der Globalisierung ... um die Deregulierung wie um ein Goldenes Kalb hüpfen. Alle politischen Parteien Frankreichs bekennen sich zur „exception française”. Dies bedeutet, daß der französische Lebensentwurf eine kulturelle Grundlage hat, der sich wirtschaftliche und politische Theorien zu unterwerfen haben - und nicht umgekehrt, wie in den USA, in Großbritannien oder Deutschland.”

Man kann über diese Ansichten, Deutungen, Erklärungsversuche durchaus streiten. Bedenkenswert sind sie allemal. Sie legen den Schluß nahe, Frankreich werde der letzte Nationalstaat des Kontinents bleiben. Wickert sagt dies nicht, untersucht auch nicht gewisse Parallelen zum französischen Lebensentwurf (vielleicht besser: Lebensauffassung), die man aus historischen Gründen sehr wohl in England und in Polen entdecken könnte. Jedenfalls aber fordert der Autor indirekt auch dazu auf, über die Rezeption des eigenen, deutschen Bildes in Europa und der Welt nachzudenken.

Mit all den Plaudereien wird sowohl eine anregende, unterhaltsame Lektüre geboten, die mit Land und Leuten vertraut macht, als auch der ernsthafte Versuch einer Analyse des anderen Staates, des anderen Landes mit seinen Menschen. Und dies mit Augenzwinkern. Köstlich jene Episode von der Parade zum 200. Geburtstag der Französischen Revolution, bei der es für 16 000 (ein Druckfehler?) geladene Ehrengäste keine einzige Toilette gab, weder hinter noch unter den Tribünen, obwohl beschlossen worden war, 400 transportable Häuschen zu ordern. Was sich daraus ergab, sollte man bei Wickert nachlesen.

Es versteht sich bei diesem Autor, daß er bei solcher Gelegenheit auch mit landestypischen Floskeln vertraut macht, etwa mit der in dieser Notsituation durch einen Polizisten verkündeten Aufforderung „débrouillez-vous”, was wörtlich übersetzt heißt „entwirren Sie sich”, aber umgangssprachlich etwas anderes bedeutet: Sehen Sie zu, wie Sie zurechtkommen!

Wickert scheut sich nicht, zu Politik pur vorzudringen. Dabei geht er wenig zurückhaltend mit seinem geliebten Land um, etwa in den Kapiteln „Frankreichs Stasi” und „Le Corbeau” (Der Rabe, was im übertragenen Sinne anonymer Denunziant bedeutet) und „Die Macht gegen den Geist”. Wenn wir da unter anderem von illegalen Zahlungen an politische Parteien und weitere Spielarten des Mißbrauchs der Macht lesen, entdecken wir in fremden Spiegeln wiederum das eigene Bild, nämlich das Bild der deutschen Parteispenden-Partei und ihre Spitzenpolitiker.

Immer wieder streut der Autor auch zwischen die beinharten politischen Fakten aus Gegenwart und Vergangenheit seine kleinen netten Geschichten ein, die der Journalist Wickert so gut schreiben, so plötzlich aus der Kramkiste holen kann. Das Buch ist voll davon. Diese Mischung macht es zu einem Vergnügen für den Leser. Und auch derjenige, der Frankreich ganz gut zu kennen glaubt, erfährt manche Neuigkeit. Gutes lesen bildet eben. Als Deutung des Buchtitels erfahren wir übrigens ganz zum Schluß, daß „die Bewohner Frankreichs über sich selbst lachen können, wenn sie vom Glück reden, Franzose zu sein”. Die Ironie ist also nicht nur bei Wickert, sondern auch bei diesem Nachbarn gut aufgehoben.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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