Rezension von Hans-Rainer John


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Warnung vor dem Untergang des Abendlandes

 

Johannes Mario Simmel:
Liebe ist die letzte Brücke
Roman.

Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1999, 593 S.

 

Heute sind die Zeitungen voller Berichte über den Angriff von Hackern auf Websites in den USA. Die E-Commerce-Seiten im Internet der Unternehmen Yahoo, Buy.com, eBay, Amazon.com und Time Warner sind lahmgelegt worden, die Verluste der Firmen gehen in die Milliarden, die Hacker haben ihren eigenen Standort im Internet verborgen gehalten, Clinton berief eine Konferenz zur Sicherheit im Internet ein. Zur gleichen Zeit beende ich die Lektüre von Simmels neuem Roman, der von Computerverbrechen handelt.

Durch Virenangriffe werden darin Computer so manipuliert, daß sie in die falsche Richtung wirken. In Spandau gibt es fast hundert Tote, weil Giftgas in einem Heilmittelwerk entweicht. In Düsseldorf-Lohausen sind ein Toter und zwei Schwerverletzte zu beklagen, weil in einer Teilchenbeschleunigeranlage der Ionenbeschuß in die falsche Richtung gelenkt wurde. In Ingolstadt gibt es 345 Tote, weil über der Stadt zwei Flugzeuge zusammengestoßen sind. Computerspezialisten („Virologen”) treten gemeinsam mit Kripo und Staatsanwalt in Aktion, um den Hintergrund aufzuhellen.

„Simmel hat wie kaum ein anderer zeitgenössischer Autor einen fabelhaften Blick für Themen, Probleme und Motive”, hat Marcel Reich-Ranicki bezeugt, und das bewahrheitet sich hier einmal mehr; vorausschauend hatte der Autor die Hand am Puls der Zeit. Das Buch, das die realen Probleme zur existentiellen Bedrohung zuspitzt, war schon da, als der Notfall tatsächlich erstmals (wenn auch noch ohne Menschenopfer) so merkbar auftrat, daß der Präsident der USA persönlich gefordert wurde. Wenn das keine Leistung ist!

Alle drei Mal wird Chefvirologe Philip Sorel von dem High-Tech-Unternehmen Delphi, das ihn beschäftigt, zum Unglücksort beordert, und dreimal gelingt es ihm, den Angriff durch Viren als Ursache nachzuweisen, auch wenn das von Mal zu Mal schwieriger wird und der Täter rätselhaft bleibt. Dafür träumt Sorel davon, ein perfektes Schutzprogramm zu entwickeln - bis ihm durch Zufall klar wird, daß er von Delphi mißbraucht wird ...

Simmel macht aus seiner antikapitalistischen Haltung keinen Hehl: Der Run nach dem Maximalprofit führt seiner Ansicht nach ins Fusionsfieber (wir haben das erst kürzlich anläßlich der Übernahmeschlacht Vodafone/Mannesmann kennengelernt), zur massenhaften Freisetzung von Arbeitskräften und zur Notwendigkeit von Kampfmitteln. Und wenn es keine Katastrophe gibt, die man nicht mit Viren hervorrufen kann, so ist der Virenangriff eine phantastische Waffe. Die globale Vernetzung von Industrie und Verbrechertum führt zu einer neuen Generation des internationalen Terrors. - Während der Lektüre schien mir das alles, obwohl spannend und dramaturgisch überaus geschickt ausgebreitet, konstruiert. Im Lichte der neuesten Ereignisse aber wirkt es nun doch aktuell und wirklichkeitsnah - was heute geschieht, ist eben nur konsequent weitergedacht und zur schlimmstmöglichen Wendung geführt. Ein Menetekel, ein apokalyptisches Bild, eine letzte Warnung vor dem Untergang des Abendlandes.

Dabei sind dem Autor einige lebendige Charaktere gelungen wie der Kriminaloberrat Parker und der Staatsanwalt Dr. Niemand, die - ein geschickter Schachzug - stellvertretend für den Leser durch Fragen die Spezialisten zwingen, allgemeinverständliche Schilderungen kompliziertester Computervorgänge zu geben, die nicht jedermann bekannt sind. Nur der Repräsentant der Delphi-Geschäftsleitung, der glatzköpfige, fette Donald Ratoff, das Schiefmaul, ist leider von Anfang an als Bösewicht vom Dienst gestempelt.

Im Mittelpunkt steht natürlich Philip Sorel, der überdies in die Geschichte durchgehend mit der Schilderung einer Dreiecks-Beziehung einbezogen ist. Er lernt nämlich in Genf die Fotoreporterin Claude Falcon kennen und lieben, die dort mit ihrem Freund, dem jüdischen Galeristen Serge Moleron, in einer Symbiose unsexueller Art lebt (Serge kann nach einem Unfall keinen Geschlechtsverkehr mehr ausüben). Die drei Figuren sind sehr plastisch und genau geraten, und das Verhältnis Claude-Philip gehört zum Innigsten und Sinnlichsten, was über die Liebe eines Menschenpaares in fortgeschrittenem Alter geschrieben worden ist. Natürlich funktioniert diese Freundschaft zu dritt realistischerweise auf Dauer nicht, aber immerhin verkörpert Simmel in diesem Trio seine humanistischen Ideale, seine Vorstellungen von Freundschaft und Zusammenhalt. Wenn es in einer Welt der Global Player, des Zwangs zum Erfolg und der unbarmherzigen Kälte versucht, mit seiner Liebe eine Brücke ins nächste Jahrtausend zu schlagen, so ist das auch Ausdruck der Hilflosigkeit Simmels angesichts des auch für ihn unlösbaren Problems Kapitalismus. Einen anderen Ausweg, als den Menschen auf sich selbst zu verweisen, sieht er nicht.

Wer die verschwenderischsten, detailliertesten Schilderungen von Stadtrundgängen und Wanderungen, frugalen Mahlzeiten, opulenten Interieurs, fantastischen Ausblicken und hochtourigen Stimmungen nicht nur in Kauf zu nehmen bereit, sondern auch zu genießen fähig ist, wird gerade an diesem Teil des Buches viel Freude haben. Es ist ein Kontrastprogramm zum harten Wirtschaftskrimi, das von der Großzügigkeit, Weltläufigkeit und Genußfreudigkeit großbürgerlichen Lebens kündet und damit auch zum eigenen Wohlbehagen beiträgt.

Daß für Sorel am Ende eine Welt zusammenbricht, weil er wie unter einer Glasglocke als hochqualifizierter Spezialist gelebt hat („Nie mehr arm! Das war der alles bestimmende Gedanke des in Armut aufgewachsenen Wissenschaftlers”), ist im Roman gestaltet und ablesbar. Daß er aber bereits am Anfang, und zwar angesichts der aufrüttelnden Antikriegsbilder Claudes, zu der Erkenntnis gelangt, er habe sein Gewissen verraten und die Arbeit des Teufels getan, weil die Erfindungen seiner Firma nicht nur friedlich und segensreich waren, sondern auch gefordert und finanziert vom Militär - das ist wenig nachvollziehbar und überzeugt nicht ganz. Natürlich sollen Wissenschaftler nicht im Elfenbeinturm leben, natürlich sollen sie auch politische Verantwortung für die Ergebnisse ihrer Arbeit tragen - aber das haben Autoren von Julius Hay (Energie) bis Heinar Kipphardt (In Sachen Robert Oppenheimer) anhand der Atombombenproblematik angemessener und überzeugender behandelt, und schließlich muß nicht jeder Computermann, der Fire-Walls und Watch-Dogs gegen das Eindringen von Viren entwickelt, gleich Komplexe haben, Krieg und Aufrüstung zu bedienen.

Natürlich gibt es auch sonst in diesem Simmel-Roman ein paar didaktische Stellen, wo - statt beiläufigen Erwähnens - dem Leser eingebleut wird, worauf es dem Autor ankommt. Natürlich gibt es auch hier ein paar Volkshochschulexkurse (über Magritte und Satie und eine historische Abhandlung über den Kongo, nur weil Claude dorthin fliegt, um anklagende Kriegsfotos zu schießen). Auch von Unwahrscheinlichkeiten ist der Roman nicht ganz frei. Wenn Philip 21 Jahre lang mit einer kultivierten Frau, einer genialen und sensiblen Pianistin, verheiratet ist und überhaupt nichts für sie empfinden und sie in dieser Zeit nie berührt haben soll, so kann man das zum Beispiel nicht ganz ernst nehmen.

Aber der glatte, angenehme, leicht fließende Erzählton, die farbige und gewählte Ausdrucksweise, die überzeugenden Sprachbilder, die geschickte Gliederung der hin und her springenden Handlung, die ein großes Material souverän einbindet, das hohe Ethos und die Ernsthaftigkeit, mit der sowohl menschliche Beziehungen als auch gesellschaftliche Grundprobleme betrachtet werden, lassen Liebe ist die letzte Brücke doch zu einem schätzenswerten Buch werden, das man mit Nutzen, Interesse und Anteilnahme liest.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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