Rezension von Karl-Heinz Arnold


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Aus der Welt der Seelenklempner

 

Samuel Shem: Doctor Fine
Roman.

Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
Urban & Fischer/Knaur Verlag, München 1999, 528 S.

 

Dies ist ein Buch in vier Kapiteln über einen Menschen, den Doctor Fine, der anfangs denkt, er sei glücklich, dann das Gegenteil empfindet und sich schließlich auf den Weg zu einem normalen Menschen begibt, sofern dies überhaupt menschenmöglich ist. Bei Fine erscheint es jedenfalls gar nicht einfach, denn er ist Psychiater. Immerhin kommt er am Ende seiner literarischen Existenz zu bemerkenswerten Erkenntnissen, die für die große Mehrzahl der vielen, vielen US-Psychiater ein Sakrileg sein dürften:

„Wie können wir helfen? Indem wir zuhören und reagieren, einfühlsam reagieren. Wir lassen uns von ihnen (den Patienten, KHA) führen, so wie ein Kind die Mutter führt. Es geht ständig hin und her - zuhören, reagieren, zuhören, reagieren. Unsere Anteilnahme, auf der Spindel der Übertragung gedreht, bewirkt die Veränderung. Alles Heilen ist genau das: Wir fühlen im anderen, was wir in uns selbst fühlen. Nicht von Freuds ,überlegenem` Standpunkt aus, sondern aus einer Gegenseitigkeit heraus, von dorther, daß wir in unserem Herzen das Herz des anderen gefunden haben.”

Fine zieht seinen Schluß nach eigenem Versagen als schulmäßig vorgehender Psychiater. Er hat in einer Patientin nicht die Serienmörderin erkannt, die seine Berufskollegen abschlachtet, sondern sie als harmlos neurotisch eingestuft. Nun ist er in der Lage, Schwächen der Freudschen Theorie und Praxis zu erkennen und zu benennen. Nun scheint ihm die klassische Lehre „grobschlächtig, falsch, wie medizinische Theorien, denen zufolge Anämie durch Aderlaß zu heilen sei”. So wird der Roman eine Absage an Sigmund Freud und seine Nachbeter.

Der Autor aber will noch mehr vermitteln: seine kritische Sicht auf die heutige Zeit, auf das nukleare Denken, ohne Gewissen, ohne Moral. Die von ihm verkannte Mörderin, so läßt Samuel Shem seinen Doctor Fine sagen, „ist der Inbegriff unseres Zeitalters: Stil, nicht Substanz, Image, nicht Wesen, Äußeres, nicht Inneres; sie sieht gut aus, aber alles ,Menschliche` ist aus ihr herausgelaugt worden”. Er nennt auch eine „neue Krankheit”, das „Video-Selbst”, gefährlicher Ersatz für menschliche Beziehungen. Und die Fernsehmacher - Quoten jagend, Menschen in einer Videowelt isolierend und vermarktend - nennt er „Vidioten”.

Die Absage an Freud, mag sie auch nur partiell sein, ist zugleich eine Absage an die im Grunde hilflose gängige Praxis der Psychiater, an ihr in den USA so massenhaft betriebenes Geschäft, an die jeweils gerade „modischen” Behandlungsmethoden, denen die Patienten auch in der Klinik unterzogen wurden und werden, an der Doctor Fine arbeitet. Schlußfolgerung: „Der Wahnsinn bei der Behandlung des Wahnsinns! Das Bedürfnis der Behandelnden, etwas zu tun, irgend etwas! Nur nicht akzeptieren zu müssen, daß sie machtlos sind und im Dunkeln tappen. Insulinschock, Hydrotherapie, Einläufe, Zwangsernährung, Lobotomie (auch Leukotomie genannt, operative Durchtrennung von Nervenbahnen im Hirn, KHA), ein buntes Sortiment von Medikamenten”, das „eine ganze Elefantenherde fünfzig Jahre lang” in Trance versetzt hätte.

Der Psychiater Fine, so erfahren wir im zweiten Teil des Buches mit dem treffenden Titel „Im Käfig”, hat für seine eigene Analyse sieben Jahre gebraucht, fünfmal in der Woche auf der Couch seines Oberpsychiaters. Nun stellt seine Frau Stephanie fest, daß er selbst ein Opfer psychoanalytischer Methoden geworden ist, denen er sich zur Erkenntnis und Vervollkommnung des eigenen Ichs so lange ausgesetzt, unterworfen hat. Bitter, anklagend und schon mit dem Gedanken an Trennung spielend, sagt sie ihm: „Die haben den Fine, den ich kannte, weganalysiert. Du warst so komisch, lebendig, wagemutig! Jetzt bist du nur noch hölzern - jede Reaktion kommt mit zwei Sekunden Verzögerung, weil sie vorher durch die Zensur muß.” Und: „Ihr geht alle auf Zehenspitzen durchs Leben und habt eine Heidenangst vor dem Unbewußten, als wär's ein Monster, das da unten lauert und nur darauf wartet, über euch herzufallen!”

Folgerichtig, verständlich oder verurteilenswert - die Frau brennt mit seinem besten Freund durch, euphorisch und doch voller Gewissensbisse. Sie findet erst nach dessen Ermordung durch jene ständig spukende, unerkannt agierende Killerin zu einem neuen Fine zurück, einem gebeutelten Versager, der aus dem Käfig ausgebrochen ist und selbstbewußt um seine berufliche Existenz zu kämpfen beginnt. Das Buch endet hoffnungsvoll, endet dort, wo es begann, an einem tiefen kalten Bach im Wald, wo sie sich das erste Mal geliebt hatten. Der Doktor, ein kleiner speckiger Mittdreißiger, mit der Flut kämpfend, ist wieder oder endlich richtig fröhlich.

„Stephanie spuckte Wasser und sagte: ,Hey, du!`
,Ja?` Er keuchte, hatte Mühe, oben zu bleiben.
,Na`, lachte sie, ,wie geht's, Fine?`
,Forever Fine!` sagte er und lachte mit ihr.”

Das Buch enthält viele hinreißend gestaltete Passagen, in denen Menschen beschrieben werden, über menschliches Denken und Verhalten geschrieben wird. Der Autor ist nicht prüde. Die kriminellen Handlungen, mehrere Morde, sind unaufdringlich, fast marginal eingefügt. Mit ihnen will der Autor seine Ansichten über die Genesis von Verbrechen andeuten. Er bekennt sich zur Unmöglichkeit von psychischer Gesundung und Resozialisierung jener Gewalttäter, aus denen alles Menschliche herausgelaugt worden ist. Fine wird vom Chef der Mordkommission gefragt, ob bei dieser Mörderin Rehabilitation möglich sei. Er antwortet: „Bei ihr? Vergessen Sie's! Diese Krankheit ist nicht zu kurieren - wenn sie zu keiner zwischenmenschlichen Beziehung fähig ist, richtet kein Medikament, kein Therapeut, keine Therapie was aus. Diese Krankheit ist schlimmer als Krebs, und es ist die Krankheit unseres Zeitalters.” Die Aktualität dieses speziellen Themas - Therapierung, Hafturlaub, mögliche oder unmögliche Resozialisierung bestimmter Gewaltverbrecher - liegt auch in Deutschland auf der Hand.

Samuel Shem, ausgewiesener Facharzt und literarischer Autor, wendet sich an ein interessiertes Publikum in den USA, dem Methoden und Ergebnisse einer oft überlangen wie auch finanziell sehr aufwendigen Therapierung suspekt sind. Er macht deutlich, daß der vermeintlich erfolgreich behandelte Patient ein bedrohlicher Fall bleiben oder werden kann. Die These von der Unergründlichkeit der menschlichen Psyche steht zwischen den Zeilen. Da der Autor ein gebildetes Publikum ebenso wie die medizinische Fachwelt im Auge hat, bekommt der Roman, ohne daß dieses Genre verlassen wird, in einigen Teilen leichte Anklänge an ein Fachbuch. Ein paar Striche an schwierigen Stellen hätten gutgetan. Das Buch bleibt aber durchweg lesbar. Es ist ein unbedingt empfehlenswerter faszinierender Bericht aus der Welt der Seelenklempner. Der Roman hat Chancen, zumindest in den USA ein Kultbuch zu werden, das man gelesen haben muß. Man hätte ihm ein Zitat voll feiner Iroie voranstellen können, zu finden in The English Patient von Michael Ondaatje: „If you are in a room with a problem - don't talk to it.”



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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