Rezension von Ursula Reinhold


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Vom Widerstand der Worte

 

Gert Neumann: Anschlag

DuMont Buchverlag, Köln 1999, 270 S.

 

Für diesen Roman wurde Gert Neumann der Uwe-Johnson-Preis zuerkannt. Damit wird der Autor eines Buches geehrt, das sich auf sehr ungewöhnliche Weise der verschwiegenen Erfahrung der Wiederbegegnung der Deutschen nach dem Ende des Realsozialismus annimmt. Neumann eröffnet mit seinem Text einen poetischen Horizont, indem er die Metaebene der deutschen Begegnung in den Verständigungsschwierigkeiten ihrer sprachlichen Manifestation aufsucht. Dabei handelt er hier konkret von der Hoffnung, den Komplikationen, den Zumutungen und der Unmöglichkeit des deutsch-deutschen Gesprächs. Es wird das gesamtdeutsche Gespräch thematisiert, die in ihm verwendeten Wörter werden nach ihrer Deckung mit dem Wirklichen befragt, um so ihren Wahrheitsgehalt zu ermitteln. Das Schweigen gilt als Bestandteil des Gesprächs, ebenso wie die Gesprächssituation erörtert und die gegenseitigen Zumutungen des Sprechens und des Zuhörens erfragt werden. Gnadenlos zerpflückt Neumann die gebräuchlichen Formeln, die in Ost wie in West die Wirklichkeit eher verhüllen als offenlegen. Auch mit diesem Buch bleibt Neumann seinem poetischen Prinzip treu, gegen die Wirklichkeit versteinernder Sprachmuster anzuschreiben, um den Wirklichkeitsgehalt von Wörtern zu ermitteln.

Solches Schreiben hat sich als Widerstand gegen die offizielle Sprachphraseologie in der DDR herausgebildet und nimmt auch hier die Erörterung von Sprach- und Wahrnehmungskritik zum Ausgangspunkt seines Erzählens. Sprachreflektorisches Schreiben bildete einen Widerstand gegen die Sprachmacht des DDR-Unterdrückungsapparates und lag in ständiger Auseinandersetzung mit deren Zensur. Neumann analysiert die Qualität solchen Sprachwiderstands und kommt zu dem Ergebnis, daß er zugleich auch als Bestätigung von Macht anzusehen war. Er fragt jetzt nach der Brauchbarkeit dieses Konzepts gegenüber einer durch Werbung und Medienmacht okkupierten Sprache, die zur Erfahrungswirklichkeit ebenfalls im Widerspruch steht. Das Konzept poetischen Widerstands durch genaue Bezeichnungs- und Wortarbeit bleibt gegenüber offiziellen Deutungshoheiten weiterhin gültig und produktiv. Dabei verhindern Sprach- und Wahrnehmungskritik vorschnelles Sinnbedürfnis und erlauben deutlichere Annäherungen an das Wirkliche. „Sprachgläubige” sind bei ihm auch die „Erkenntnismüden”, deren Macht sich hinter angemaßter Deutungshoheit verbirgt. Auch unter den veränderten Bedingungen kann ein Sprechen und Sehen, das sich gängigen Deutungsmustern entzieht, nur als Widerstand wirksam werden.

Neumann verpackt seine Spracharbeit - er bietet sie in 20 Textabschnitten dar, die sich jeder gattungsmäßigen Einordnung entziehen - in den anhaltenden Dialog zwischen einem in der DDR sozialisierten Schriftsteller-Ich und einem westdeutschen Gesprächspartner, dessen Physiognomie schwer bestimmbar ist. Einerseits kennzeichnet der Autor ihn in der Beschreibung seines Äußeren als einen an die gängige Konsumwelt angepaßten Menschen, dem er andererseits Züge linken Denkens bis zum Jargon kulturkritischen Philosophierens zuweist. „Ihnen gegenüber, mein Herr, wäre es doch ein fürchterliches Verbrechen gewesen, das Traumgebilde der westlichen Freiheit für krank zu erklären ... nicht wahr?” Das Gespräch führen beide bei einem Spaziergang auf dem Weg nach Kloster Chorin. So eröffnet Neumann sein Erzählen mit einer Gesprächssituation, deren Konditionen ein sich fast gleichbleibendes Erzählgerüst bilden. „,Was mag die Vorsehung wohl damit, wissen Sie, daß sie die Deutschen grimmig durch den billigen Wochenendtarif der Deutschen Bahn AG aus ihrer Ruhe aufgeschreckt hat, bezweckt haben!`, rief ich auf dem Weg nach Kloster Chorin meinem Begleiter zu, als ich endlich zu sehen meinte, daß der Mann gegen allen unserer Begegnung gebotenen Anschein tatsächlich gerade willens war, wortlos die eigentlich zwischen uns gehende Erzählung zu verlassen, die ich bis dahin unserem Gespräch zu geben glaubte.”

Schon dieser Eingangssatz verrät, daß die Lektüre von Neumanns Buch erheblichen Widerstand zu überwinden bedeutet. Unterzieht man sich als Leser dieser Anstrengung, gibt es Blitze des Erkennens und Wiedererkennens. Bestandteil des geführten Dialogs sind Erzählpartikel biographischen Ursprungs, z. B. die von der Verhaftung des Schriftstellersohnes durch die Stasi und der Suche des Vaters nach dem Sohn, die ihn überraschend in ein Zuchthaus gelangen läßt, wo er mit der Stasi in Kontakt gerät. Die Suche nach dem Sohn und die Konfrontation mit den Behörden sowie deren Einladung an den Vater, die Abschiebung des Sohnes in den Westen zu unterstützen, bilden Elemente eines Handlungsgerüsts, an dem die Problematik des Sprachwiderstand erörtert wird. Für die Gegenwart wird das Konzept des Sprachwiderstands durch Erzählungen über die Situation von Arbeiterinnen im kapitalistischen Betrieb exemplifiziert und durch Beschreibungen von Lumpensäcken im Pariser Straßenbild, die dem gängig touristischen Blick auf die Stadt widersprechen. Auf diese Weise wird Neumanns sprachkritisches Konzept auf seine Brauchbarkeit unter den veränderten Verhältnissen hin befragt. Denn das eigentliche Thema von Neumann ist die Sprache, deren Wörterunschuld er ebenso bezweifelt wie unsere Fähigkeit der adäquaten Wahrnehmung von Wirklichkeit. Das Ringen um sie bleibt das Thema seines Schreibens. Für seine Spracharbeit verwendet er Zitate, die er nutzt und abwandelt und in einen erhellenden Zusammenhang bringt. Es gibt in seinem Buch aufschlußreiche Sprachentdeckungen, so wenn vom Doppelsinn des Wortes u m s o n s t gesprochen wird, das von den Ostdeutschen als Erklärungsformel über vergangenes Leben für die Westdeutschen in der Wendung vom „umsonst gelebt zu haben” verwendet wird. Neumann gibt diesem u m s o n s t in der Bedeutung von unentgeltlich den realen Lebenshintergrund zurück, in dem er vom geselligen Schlendrian in Betrieben und Arbeitsstätten erzählt. Zugleich spielt für das Erzählen die historische Landschaft der Mark um Kloster Chorin eine Rolle, deren geschichtliches Werden im Dialog präsent ist und deren gegenwärtige Veränderung durch riesige Parkplätze mitsamt einem stattfindenden Mittelalterspektakel den Gesprächshorizont mitbestimmt.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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