Rezension von Waldtraut Lewin


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Die essende Familie

 

Amanda Michalopoulou: Der Oktopusgarten
Roman.

Aus dem Griechischen von Birgit Hildebrand.
Rotbuch Verlag, Hamburg 1999, 429 S.

 

Eine junge Griechin überrascht uns mit einem Roman. Einem Familienroman der anderen Art. Daß die junge Griechin in ihrem Buch Martin Stade erwähnt und daß sie mal in Wiepersdorf als Stipendiatin war, überrascht auch, aber die literarische Welt ist nun mal ein (Wiepers-)Dorf. Doch das nur am Rande. Fakt ist, daß es der jungen Dame mit dem für unsere Zungen etwas komplizierten Namen gelingt, ein Gebilde herzustellen, das witzig und direkt, kompliziert und vielfach verschlungen wie ein Gewebe, idyllisch und kriminalistisch, vielfach gebrochen und doch mit durchgehendem Schwung erzählt wird. Etwas, das man so noch nicht kennt - und deswegen erfreut es.

Daß dem so ist, liegt vor allem an der Figur der Ich-Erzählerin Athina Xenou, einem eher einsamen Mädchen mit weniger körperlichen Reizen als Charme und Geist, die zu Beginn der Geschichte vor der Leiche ihres Vaters steht, eines vereinsamten und eigenbrötlerischen Linguistik-Genies, mit dem sie in mehr oder weniger verstecktem familiären Kleinkrieg in einer Wohnung gelebt hat; Bruder in London, Mutter geschieden und anderwärts verheiratet - aber halt, so geht es eigentlich ja gar nicht los. Eigentlich geht es damit los, daß dies Buch schon geschrieben, der Verleger schon gefunden ist, daß Athina und ihr Mitautor-Bruder sich über den Titel nicht einigen können ... Nein, stimmt auch nicht. Dieser Bruder hat vier Erzählungen über die Familie geschrieben, die Athina übersetzt hat, und eigentlich, um das, was er darin schreibt, richtigzurücken, hat sie den Rest des Buches drum herum geschrieben ... Man sieht, es ist eine ziemlich vertrackte Sache, und mit einer konventionellen Fabel-Nacherzählung kommt man dem skurrilen Liebreiz der Sache in keiner Weise nach.

„Ich versteh nicht, warum du nicht zugehst”, sagt Athina bei einem ihrer zahllosen Umzüge zu ihrem Koffer; nach dem Tod des Vaters vagabundiert sie durch die Häuser aller möglicher Verwandten, immer auf der Suche nach irgendwas - der wahren Liebe, dem wahren Leben, der wahren Geschichte der Familie. Schließlich geht er denn doch zu, der Koffer, aber was da alles hinein muß - und hinein geht! -, das ist schon erstaunlich. Denn: „Das Neue läßt das Alte anschwellen oder schwinden. Aus sich selbst heraus ist das Neue überhaupt nichts.”

Es ist, wenn wir so wollen, das alte Lied: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, den verlorenen Familienbanden, definiert die Heldin sich neu, löst die Knoten des Geheimnisses, baut sich ein neues Leben als gefeierte Köchin und angehende Autorin. Aber w i e das hier gewebt ist, das ist frisch, überraschend und bei allem erzählerischen Anspruch von direktem Witz. Athina nimmt sich selbst so wenig ernst wie ein Meerschweinchen; die trockene Art, wie sie mit ihren eigenen Liebes- und anderen Nöte umgeht, ist frei von jedem Selbstmitleid, cool, ironisch, frech. Es gibt in diesem Buch viele Geheimnisse, die entschleiert werden - nicht einmal der Tod des Vaters ist ein natürlicher gewesen, und Athina löst diese Probleme mehr oder weniger zufällig, wobei sie auch mal einer herzhaften Prügelei nicht aus dem Wege geht. Aber das eigentliche Bindeglied zwischen den Mitgliedern dieser etwas verkorksten Familie ist ihre Liebe zum Kochen und zum Essen, die sich in den unterschiedlichsten Formen manifestiert: Ein Onkel ist ein international gefragter Spitzenkoch (mit dem Athina später das Restaurant „Der Oktopusgarten” aufmachen wird), der andere nur ein Theoretiker kulinarischer Genüsse, der unzählige Rezeptbücher, aber auch Filme und Romane sammelt, sofern sie nur entfernt vom Essen handeln, die Mutter entwirft Kunstwerke aus Lebensmitteln, und der Bruder stellt die Familiengeschichte in Form jahreszeitlich bedingter Festschmausereien vor - wobei die Lebensmittel die Rolle des Ich-Erzählers annehmen. Schließlich mutiert Athina selbst zur Koch-Meisterin, die alte rustikale Taverna der Großmutter wird zum Feinschmeckertempel, und Großmutters stets von Handgreiflichkeiten begleiteter Spruch: „Ich schlag dich noch wie'n Oktopus!” gewinnt eine doppelsinnige Tiefe: Athina ist irgendwie „zurechtgehauen” worden, bis sie beim Oktopus in der angestammten Küche landet.

Sprache und Aufbau des Buches lassen an Originalität nichts zu wünschen übrig, aber da ist nichts, was bei aller Kunstfertigkeit gekünstelt daherkommt. Das sind fast 430 Seiten Spaß und Entzücken am Ungewöhnlichen, und man kann sich schon auf ein neues Buch von Amanda Michalopoulou freuen.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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