Rezension von Friedrich Schimmel


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„Die Wahrheit liegt im Verschwinden”

 

Hartmut Lange: Eine andere Form des Glücks

Diogenes Verlag, Zürich 1999, 129 S.

 

Der Erzähler Hartmut Lange beherrscht nicht nur die Kunst des Verschwindens, er besitzt dazu auch die Fähigkeit, die Wahrheit des Verschwindens zu erkunden. In dieser Erzählung, es kann auch fast eine Novelle sein, wenngleich das große unerhörte Ereignis hier fehlt, in diesem Text also geht es um das Verschwinden und Wiederauftauchen einer Corinna Mühlbauer. Ein Wesen, das sich allem, vor allem Männern, immer wieder entwindet. Der Statiker Christian Kippenberger unternimmt mit ihr eine Reise durch die Karibik. „Mit Corinna verreisen, das ist das Glück”, versichert er, obwohl er doch zugleich weiß, daß es nur das gedachte Glück ist. Denn er sieht, daß sie fast immer etwas abwesend ist, einmal sogar auf so seltsame Weise verschwindet, daß er vermuten kann, sie sei regelrecht durch die Wand gegangen. Gerade dieses Durch-die-Wand-gehen-Können, durch den Nebel des Lebens, den Dunst der Beziehungen, das ist es, was Hartmut Lange interessiert. Er läßt Corinna auf den Fotos der Karibik-Rundreise verschwinden, läßt den Hochzeitstermin platzen, die Beziehung zwischen ihr und Kippenberger steht auf der Kippe und versandet, nachdem sie sogar seine Möbel von Berlin West nach Berlin Ost verschwinden läßt. Doch da ist der immer aufmerksame Freund und Zahnarzt Dahlhaus, der eine Gemeinschaftspraxis mit Frau Lore am Roseneck hat. Seine Patienten kommen nicht nur aus der „Prominenz”, nein, auch aus Stuttgart und Hamburg, und: „... auch wurde gemunkelt, daß er reiche Kundschaft aus dem Nahen Osten behandelte.” Er gibt Partys mit Bridgespiel, träumt auch von einer Karibik-Reise und setzt, hört, hört! „Mörtel” als Füllmaterial seinen Patienten ein. Aber die Praxis geht gut, was man von Kippenbergers Büro nicht sagen kann. Hartmut Lange ist ein leiser Ironiker des sogenannten selbstverständlichen Lebens. Dem Statiker rennt die Geliebte weg, den Zahnarzt schmerzt das Knie. Nie stimmt das Gleichgewicht, und wo es noch so aussieht, ist es nur eine Täuschung. Denn das Leben hat immer seine offenen und seine verdeckten Schattenseiten. Und wer gar nur den Gesetzen der Logik folgt, ist schnell ein Selbstbetrüger. Um zu erkennen, was die Münze des Lebens auf der Rückseite zeigt, bedarf es anderer Kräfte, unbekannter, vor allem phantastischer Art. Diese zu entwickeln ist das Ziel der Corinna in dieser Novelle ohne unerhörtes Ereignis. Der wichtigste Satz steht in Kippenbergers Tagebuch und wird zum Leitmotiv des Buches: „Die Wahrheit liegt im Verschwinden.”

Doch Zahnarzt Dahlhaus versucht nicht nur, seinen Patienten die Lücken wieder zu schließen, er forscht anhaltend nach. Wo ist das Möbel? Wo ist Corinna? Das interessiert ihn so sehr, daß daraus fast ein Ehe-Drama entsteht, denn auch die Zauberin im Verschwinden hat die Fäden des Spiels aufgenommen, schreibt mit dünner Tinte rätselhafte Briefe an den immer aufgeregter werdenden Zahnarzt. Das ist gut erzählt und schön ersonnen, wie der Schmerz des einen nachläßt und die Sorgen des Freundes beginnen. Balancen und ihre Verschiebungen. Der Erzähler besitzt gute Ortskenntnisse vom Grunewaldsee (wie da der Mond mitspielt!) und von den opulenten Grundstücken im Westen Charlottenburgs. Als er zweimal in den Osten fährt, durch Mitte, Friedrichshain und Prenzlauer Berg, hat man den Eindruck, daß die Mauer noch steht und der Erzähler diese kraft seiner aufs Verschwinden eingestellten Phantasie mühelos ignoriert und somit überwindet. „Die Fassaden wirken, bis auf wenige Ausnahmen, verkommen!” Mag sein, daß da ein Schock noch immer nachwirkt. Dem Text insgesamt schadet das nicht. Denn was fast eine Kriminal-Novelle geworden wäre, geht eher in eine spätromantische Erzählung über. Dahlhaus holt das Möbel zurück, rettet ein Armband von Corinna und findet am Grunewaldsee auch ein Haus, in dem er sie trifft. Während der Statiker Kippenberger wieder große Aufträge erhält, sein Büro ist nun in der Friedrichstraße, Corinna fast vergessen hat, verfällt Dahlhaus geradewegs der Magie dieser Frau. Es ist ein Suchen wie im Traum, eben sah er sie noch, und nun ist die Eingangstür zum erwarteten Himmel der phantastischen Hoffnungen nicht mehr auffindbar. Daß das Sich-Entziehen eine andere Form des Glücks ist, muß erfahren werden, denn „die Wahrheit liegt im Verschwinden”. Dieses Glück nun besteht nur aus Splittern, Erinnerungen, Situationen, was Glück genannt wird, ist das Glück in der Ferne. Nachdem das Glück der Nähe hier zwiefach nicht das war, was das Glück in der Ferne sein könnte.

Hartmut Lange spielt mit diesen grauen schwebezuständen, die allesamt Kopfgeburten der Männer sind. Denn immer sind es in diesem Text die Frauen, die sich entziehen, einmal mit Phantasie (Corinna) und einmal mit Eifersucht und Distanz (Lore). Daß Dahlhaus am Ende dieses Spiels Corinna doch noch trifft und bei ihr nächtigt, ist kein Glück, denn er wird niedergeschlagen, muß ins Krankenhaus, weiß kaum noch zu sagen, was ihm da wo passiert ist. Als er wieder aufwacht, steht Maldini, auch ein verblichener Freund von Corinna, am Bett. Und Dahlhaus stellt die wichtige Frage: „Wo ist Corinna?” Die treffliche Antwort lautet: „Immer unterwegs.”

Immer unterwegs sein, dies ist hier das spannende Spiel der Figuren, die Ironie des Erzählers. Mag die poetische Luft in diesem Prosastück bisweilen auch etwas dünn sein, am Ende findet doch jeder wieder zu seiner gewohnten Tätigkeit. Frau Lore kehrt zurück, Kippenberger nimmt nun doch noch am innerstädtischen Bau-Boom teil, und Dahlhaus kann sich wieder ganz seinen Patienten widmen. Man wandert wieder mit dem Mond (der auch seitenverkehrt scheint) um den Grunewaldsee, wird so schnell nicht und vielleicht auch nie wieder nach Prenzlauer Berg fahren. Das Spiel ist aus, das Knie schmerzt nicht mehr, nun beginnt in der Teplitzer Straße der Preßlufthammer zu wummern, „so daß Lore, aber auch Dahlhaus plötzlich voller Sorge waren, daß sie in Zukunft nachts nicht würden schlafen können und daß es ihnen also schwerfallen würde, sich auch weiterhin so gewissenhaft, wie sie es gewohnt waren, um ihre Patienten zu kümmern”.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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