Rezension von Crauss.


Applaudierendes Publikum und konsternierte Jury

Thomas Jonigk: Jupiter
Roman.
Residenz Verlag, Salzburg 1999, 149 S.

Aus dem Manuskript hatte Thomas Jonigk bereits beim Bachmann-Wettbewerb 1999 in Klagenfurt vorgetragen. Der Autor wurde als einer der Favoriten gehandelt, spaltete die Zuhörer jedoch in ein positiv applaudierendes Publikum und eine konsternierte Jury, um dann doch leer auszugehen. Was Jonigk vorgelesen hatte, war eine handfeste und in ihrer Detailliertheit fiese Vergewaltigungsszene, das erste Kapitel des Romans.

Der 19jährige Martin wird auf einer Kneipentoilette sowohl vom Wirt persönlich als auch von zwei Ausländern über vierzehnmal penetriert. Mehr als die Mißhandlung erschreckt die schablonenhafte Sprache, die der Autor dem Erzähler in den Mund legt: pedantisch genau, künstlich, kontrolliert und ohne Gefühl. So erhebt das Opfer sich über die Angreifer, denn Opfer sei nur, wer entscheidet, sich zu unterwerfen. Hier liegt die größte Korrespondenz zwischen Jupiter und Jonigks neuestem Theaterstück, das bezeichnenderweise bloß „Täter” heißt und im Frühjahr 2000 in Wien uraufgeführt wird.

Plötzlich läßt der Erzähler, aktiv, seine „Zunge virtuos und dennoch entspannt” um das Glied kreisen, „welches bis zum Schaft in mich hineingeschoben wurde, (...) während ich meinen Kopf rhythmisch vor- und zurückschnellen ließ. (...) Gastfreundlich gewährte ich Pedro den fünfzehnten Verkehr ... Ich hatte mich ihm von Anfang an freiwillig verpflichtet gefühlt.” Er gibt sich selbst auf, weil er in ständiger Angst lebt, irgend etwas falsch zu machen, wird darüber aber zum rassistischen Ekelpaket. „Ich bin nur dann zufrieden, wenn der andere befriedigt ist.” Bereits in der zweiten Zeile des Romans fällt das Wort „Schuld”. Martin hat das Gefühl, allen zur Last zu fallen, seit seiner Kindheit. „Ich finde, ich sollte einmal versuchen, darüber nachzudenken”, reflektiert er, außer sich stehend und definitiv zuviel denkend, denn Martins Überlebensstrategie führt zur zwanghaften Selbstverneinung: Ich ist ein anderer.

Wer glaubt, die Geschichte entwickle sich nach dem furiosen Anfang zum Bewältigungsroman, den lehrt Jonigk erbarmungslos, daß gerade erst der Auftakt einer Nymanschen Miserere gespielt wurde, die sich im Bolerorhythmus steigert. Jupiter, der schlechte (Horoskop-)Stern, der über dem Erzähler schwebt, mutiert zum Horrortrip. Wo vorher wenigstens noch eine körperliche Reaktion auf Übergriffe möglich war, kommt Martin nicht mehr aus sich raus. Sprachliche Wiederholungen und erzählerische Kreisläufe sind dabei eher spannungssteigernd. Das Erlebnis der Vergewaltigung vermischt sich mit mindestens ebenso schrecklichen Kindheitserinnerungen: „Ich hatte eine glückliche Kindheit, an die ich mich nicht erinnern kann ... Ich verdränge nämlich alles Positive.” Später zeigt sich, watteweich in bis an die Grenze der Unerträglichkeit gehenden Kleenex-Formulierungen eingelullt, daß Martin von der fetten Mutter vernachlässigt und vom Vater seit seinem zweiten Lebensjahr mißbraucht wurde: „Ich empfinde Vorfreude. Vor lauter Vorfreude wird Angst in mir ausgelöst. (...) Widerstandslos gleite ich in das spermafarbige Wasser, weil ich weiß, daß mich dort eine saftige Überraschung in Form von Vater erwartet.” Martin hat es zum Zeitpunkt der Erzählung gerade geschafft, sich loszumachen von den Eltern und eine eigene Wohnung zu beziehen. „Vater fehlt mir”, heißt es immer wieder. In der neuen Wohnung fühlt er sich allein, er geht in Pedros Bar.

Nach der dortigen Vergewaltigung führt ihn sein Weg direkt in die Arme von Jürgen, der sich an Martins Hilflosigkeit erregt und den Erzähler schließlich ebenfalls ausnutzt. In Erwartung einer echten Liebesbeziehung wohnt der 19jährige bei dem Mann, versucht, perfekt zu sein, egal ob in der Arbeit, die er sich mit Jürgens Drogerie aufhalst, oder vor dessen Videokamera in pornographischen Verrenkungen. Er befindet sich „schlagartig in ununterbrochener Bereitschaftshaltung”. Vorläufige Höhepunkte all dessen sind eine Endlosschleife von drei Seiten, in die der Erzähler über einen Hausfrauentraum hineingerät und die nun seinerseits aktiv ausgeübte Vergewaltigung an einem ehemaligen Schulkameraden, der im Begriff war, sich in Martin zu verlieben. Die Situation bricht rapide um, wird schizophren, das vorherige liebesunfähige Opfer entpuppt sich als brutaler Täter, diesmal ohne ironische Beigaben geschildert und darum um so grauenhafter.

Thomas Jonigk rechnet in seinem Debütroman eiskalt und konsequent ab mit heuchlerischer Bewältigungsliteratur, in der das Opfer immer noch erniedrigtes Objekt bleibt. Bei Jupiter wechseln Ekel und Erregung manchmal so unauffällig, daß der Leser beides zur gleichen Zeit empfindet. Das Ende vom Lied ist ein Sprung aus dem Fenster; aber es ist nicht das Ende, denn „Martin glaubte an ein Leben nach dem Tod”, und das beginnt mit dem gleichen Satz, mit dem der Roman eröffnet wurde.



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite