Rezension von Bernd Heimberger


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Mann ohne Mauern

 

Wolfgang Hilbig: Das Provisorium

Fischer Verlag, Frankfurt/M. 2000, 320 S.

 

Das Provisorium ist die Geschichte von Provisorien. Ein Provisorium ist die Heimat. Die hat man, oder man macht sie sich möglich. Ein Provisorium ist das Reisen. Reisen bringen von Ort zu Ort und führen - letztendlich - zur Orientierungslosigkeit. Ein Provisorium ist die Liebe. Mal hat sie mit dem einen, mal mit dem anderen Menschen zu tun, mit denen man es gelegentlich zu tun bekommt. Ein Provisorium ist das Leben. Meist sollte es anders sein, als das, das man genötigt ist zu leben. Alle Provisorien haben Geschichten. Und alle Geschichten machen nur eines klar: das Provisorische der Provisorien! Das einmal erkannt, lassen sich getrost Hoffnungen aufrechterhalten. Zweifelnd, widerstrebend, trotzig hält Wolfgang Hilbig Hoffnung hoch. Einen ganzen Roman lang wird Hoffnung hochgehalten. Wider sämtliche Hoffnungslosigkeiten. Ohne das Festhalten an der Hoffnung, sich von Provisorium zu Provisorium weiterhangelnd, wäre auch Hilbigs Roman Das Provisorium nichts geworden. Er spricht über sie. In nie dagewesener Weise. Hilbig, der stets das Risiko wagte, sich nicht zu verstecken, wenn er schreibt, steht nackt da. So kategorisch wie in #132;Provisorium” hat er die öffentliche Selbstbeschäftigung noch nie betrieben. Wenn nicht mehr Selbstbespiegelung gemeint ist, wenn Selbstbefragung die Sache ist, weil die Situation soweit ist, daß nichts mehr leicht ist, dann werden die Befragungen intensiv und wesentlich. Wie in dem neuen Roman von Wolfgang Hilbig! Das Erzählwerk einen exhibitionistischen Akt zu nennen, würde den Romanautor nicht beleidigen, wäre Exhibitionismus nicht ein im allgemeinen Verständnis diskreditierter Akt. Selbst wer Wolfgang Hilbig und seine Biographie nicht kennt, kommt nicht umhin, zu vermuten, daß der Schriftsteller C. in Das Provisorium verdammt viel mit dem Schriftsteller W. H. gemein hat. Wenige Eingeweihte werden den Roman ohnehin als Schlüsselroman lesen und dem Wiedererkennen nicht ausweichen können. Das tut dem Anspruch des Romans auf Allgemeingültigkeit keinen Abbruch. Mit einer in seiner Literatur so noch nie gezeigten Konsequenz, der Realität zu geben, was die Realität hergibt, erschreibt sich Hilbig eine Überrealität, die das Mehr hat, das keine Realität haben kann. Auf diese Weise wird der privateste und biographischste Stoff seiner Stoffe literarischer Stoff und Das Provisorium ein starkes Stück Literatur. Manchmal ist die Überrealität jenem Kintopp-Regen vergleichbar, der kein natürlicher Regen ist. Kunst prasselt künstlich nieder, obwohl sicher ist, daß es schon im nächsten Augenblick schön schauert oder sanft nieselt.

Der Roman Das Provisorium muß auf vieles verzichten, was den gewöhnlichen Roman gewöhnlich zum Roman macht. Eine entwickelte, sich rundende Geschichte fehlt. Es fehlt die bestimmende, weil bewegende Figur, die gern Hauptfigur genannt wird. Die hauptsächliche Figur ist C. Sein Schicksal bestimmt, was die Seiten des Buches bewegend macht. Von C. heißt es - und das ist der Schlüsselsatz zur Person -, „Die Wahrheit war, er hätte es als Zumutung empfunden, wenn man ihn irgendwo eingeordnet hätte.” Die Zumutungen finden statt. Die Zeiten sind nicht anders, und deshalb lebt es sich allzeit und allerorts nicht einfach für C. Als Schriftsteller in Leipzig zu Hause, raubt das #132;Leseland” dem Schriftsteller das Gefühl des Zuhauseseins. Eingeladen zu Lesungen in Ländern jenseits der Mauer, ausgestattet mit einem langfristigen Visum, in Hanau/Nürnberg angesiedelt, beginnt für C. in der zweiten Hälfte der Achtziger die Ankunft im Literatur-Alltag des Westens. Die Ankunft wird zur Abkehr und schließt dennoch die Rückkehr aus. Ankunft hat auch den hoffnungsvollen Namen Hedda. So heißt die begehrte, gewünschte neue Freundin. Rückkehr hieße, zurück zu Mona, der verlassenen Freundin, zur Mutter in M., zurück in das „Leseland”, indem C. nicht lesen darf und fast niemand ihn liest. C. reist hin und her zwischen West und Ost. Sooft er die Orte wechselt, die deutsch-deutsche Grenze bequem passiert, er gerät zwischen alle Orte, alle Länder, alle Frauen. Es lebt sich schlecht zwischen allen Stühlen. Am äußersten Ende der Sackgasse steht Mann wieder vor einer Mauer! Mehr und mehr wird die Situation nicht nur die Situation eines Heimatlosen. Es wird die Situation eines Orientierungslosen.

Das Provisorium ist ein Roman, der von der Orientierungslosigkeit erzählt. Die Beschreibung der Orientierungslosigkeit macht die Privatgeschichte zur Zeitgeschichte. Orientierungslos, wie C. in den Orten und in der Zeit ist, wird bald nicht nur ein versinkendes Land sein. Im Schicksal des Schriftstellers C. ist das Weltschicksal. C. nimmt die Zeit der zweiten Hälfte der Achtziger als die Zeit wahr, die das Ende der Illusionen offenbart. Gebiert nicht jede Desillusionierung Illusionen? Für C. sieht's so aus, den Romanschluß ernst genommen. In der DDR zu keiner DDR-Identität gekommen, kann sich C. nicht mit der Kapitalgesellschaft identifizieren. Als Bedrohung empfindet er, daß die Potenz des Körpers eher geschätzt wird als die des Kopfes. Entsetzt nimmt er wahr, welchen rasanten Fortschritt die Entbildung der Bürger gemacht hat. Rausgekommen aus der DDR, kommt C. in der BRD nicht an, in der er ein besseres Auskommen hat. Das Leiden an den provisorischen Ländern, den provisorischen Liebeleien wird durch nichts und niemand gelindert. Das Leid des Schriftstellers C. wird immer mehr zum Leiden am Schriftsteller C. Reichlich getrunkener Alkohol ist das geringste Übel. Übler ist die gewünschte und tatsächliche Impotenz. Am übelsten sind die beginnenden, andauernden Schreibhemmungen. Dem nicht mehr verbotenen Schriftsteller verbietet sich das Schreiben. Ist das die eigentliche Tragödie? Nur der Titel „Das Visum” kommt auf die bevorzugt benutzten Schreibhefte. Lange nach der Zeit der Schreibhemmungen kommen die Sätze über die Schreibhemmungen aufs Papier und der Titel wird sein: Das Provisorium.

Ein Schrifsteller, der schreibt, wehrt sich gegen die verstreichende Zeit. Manchmal braucht es die Zeit des Abstands, um sich wehren zu können. Ist kein Abstand, ist die Schreibhemmung die einzige Erfahrung, kann das lebensgefährlich für einen Schreiber sein, dem Leid immer auch eine Rechtfertigung fürs Schreiben ist. C. fühlt sich als geborener Schriftsteller. Den kann auch die Ablehnung in der DDR nicht brechen. Er schreibt und schreibt. Schreiben ist für ihn, trotz der beleidigenden Ablehnungen, die beste Therapie, um Ablehnungen, Ablehner und das Ablehnerland zu überleben. Ausgerechnet die erfolgreiche Therapie, mit Worten Widerstand zu leisten, erweist sich für C. im Westen als untauglich. Er wird zum Wehrlosen, zum Hilflosen, dessen Leben in Gefahr gerät. Das Provisorium ist auch - berechtigt - das bedrückende Buch vom Überleben eines Schriftstellers, dem die Chance flötengeht, mit Provisorien zu leben. Warum den Roman nicht den besten therapeutischen Text nennen, den Wolfgang Hilbig je geschrieben hat? Für sich geschrieben hat! Als er ihn noch nötig hatte? Sonst hätte er ihn nicht geschrieben. Niemand muß sich schämen, wenn er sich mit dieser unverschämten Identitätssuche des Schriftstellers identifiziert. So peinlich Hilbig persönliche Solidaritätsbekundungen auch sein werden, er muß auf sie gefaßt sein. Er weiß es, und er wird sich nicht verkrümeln!

Das Provisorium ist ein kiloschweres Pfund für Psychoanalytiker. Gesprochen wird über einen - oder es spricht sich einer aus! -, der den „Schweißgeruch seiner Schuld” nicht aus der Nase bekommt. Kein Verdrängen, auch keine Bewältigung ist gefragt, immer die Nachfrage: Was ist die eigene Schuld, die soviel stinkenden Schweiß absondert? Vielleicht nur die eine, wahre Wahrheit, „immer an sich vorbei gelebt” zu haben? Eine Wahrheit, der sich irgendwann jeder zu stellen hat, der auf die Fünfzig zugeht wie der Schriftsteller C. in Das Provisorium. Eine Wahrheit, die deutlicher hervortritt, wenn die Zeitgeschichte Provisorien ins Wanken bringt, die gerade noch DDR und BRD heißen? Die Situation der Orientierungslosigkeit, in der sich der Schriftsteller C. vor 1989 befand, nimmt die Orientierungslosigkeit vorweg, in der sich nach 1989 die DDRler befanden. Was, der Analogie folgend, zu Hoffnungen berechtigt. Werden die Leute aus der DDR in Deutschland sprachmächtig wie der sprachlos gewordene Mann der Sprache, der C. genannt wird und Wolfgang Hilbig heißt? Einer, der die Intimität des stillen, schwierigen, schönen wie schrecklichen Schreibens kennt. Die auch nur ein Provisorium ist? Oder doch das unantastbare Paradies des Poeten auf Erden? Aus dem C. alias W. H. einmal, fast, vertrieben wurde, als alle Verbote überwunden schienen. Vielleicht lebt nur angenehm, wer mit Verboten, also Geboten, lebt, die alles möglich werden lassen, aber nicht alles nötig. Weniger nötig zu haben, als einem zugestanden wird, ist eventuell die bessere Gewähr, sich mehr zu ermöglichen. Auch darüber läßt Wolfgang Hilbig seinen Stellvertreter in der Literatur grübeln. C. ist einer, der, wie der Autor, im Schreiben ins Grübeln gedrängt wird. So viele Abgründe sich auch auftun, das Geschriebene des Getriebenen wird nicht abgründig. Davor ist immer Hilbig! Der Schriftsteller der Worte wird nicht für Comedy-Spaß mißbraucht. Der Schriftsteller, der dem Witz der Worte vertraut, der am Spiel mit der Sprache seinen Spaß hat. Den will er sich von niemand stehlen lassen, weil er sonst ohne Wehr wäre. An dem Spaß will er die Leser teilnehmen lassen, wenn er sein Talent öffentlich macht. Das wirklich Große, zusammenhangbildende in dem Roman Das Provisorium sind die Gedanken und Gefühle, die ein Mann über den Mann äußert. Egal, ob der C. oder W. H. heißt. Immer sind es Gedanken und Gefühle, die den täglich vielfach geäußerten unredlichen, unehrlichen, betrügerischen Gedanken und Gefühlen der Männer die Grundlage entziehen. Selten ist in der deutschen Literatur der Mann derart gewissenhaft entblößt dargestellt worden. Mit der Entblößung hat sich der Erzähler keine Blöße gegeben. Respektvoll und respektabel hat er den Entblätterten aufs Papier gebracht. Ängstlichen Kerlen wird das Buch was antun! Was? Sie fesseln? Entfesseln? Was auch immer, das Ende aller Provisorien wird nicht versprochen. Auch nicht das Ende des Patriarchats! Das Buch werden mehr und mehr Menschen mögen, die Menschen mögen. Wegen des Schriftstellers Wolfgang Hilbig. Oder auch nicht. Wegen des Schriftstellers C. Der provisorisch Wolfgang Hilbig vertritt?



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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