Rezension von Bernd Heimberger


Annäherung durch Abstand

Wieland Förster:
Die Phantasie ist die Wirklichkeit
Reisetagebücher.
Hinstorff Verlag, Rostock 2000, 295 S.

Die Wege des Wieland Förster sind immer Wege zu Wieland Förster. Auch, wenn der Richtungsanzeiger gen Tunesien oder Rügen, Bulgarien oder Paris weist. Wo immer Förster hinkommt, er kommt zunächst und zuerst bei Förster an. Auch in Tunesien, Rügen, Bulgarien, Paris ... Darauf kommt es ihm an. Darauf kommt es an. Reale Reise des Bildhauers, Beobachters und Beschreibers sind immer rege Reisen im Kopf. Davon konnte sich im Laufe der Jahrzehnte überzeugen, wer die künstlerisch ausgestatteten Reisetagebücher des Wieland Förster in die Hände bekam. Kein Kunstbuch, sind die Reise-Reflexionen nun - um zwei Berichte vermehrt - in einem Band zusammengefaßt, dessen Titel Die Phantasie ist die Wirklichkeit die wesentlichste Lebenserfahrung des Künstlers artikuliert.

Was Wieland Förster auf seinen Welt-Wanderungen zwischen Tunesien (1967) und Paris (1985) wahrnahm, war Welt, die dem gewöhnlichen DDR-Bürger gestohlen wurde. Während Freund Franz Fühmann in seinem Ungarn-Tagebuch 22 Tage oder Die Hälfte des Lebens den Weltdiebstahl aufdeckte, notierte der Bildhauer auch die Verluste, die Weltgewinn zur Folge haben. Förster bestätigt die These des Russen Konstantin Paustowski, der sagte, daß jeder einmal in Paris war - im Traum! Tatsächlich in Paris angekommen, erlebt Förster eine Wirklichkeit, die er tatsächlich in der Phantasie vorweggenommen hatte. Da kann das real existierende Paris doch nur noch eine Enttäuschung sein! So kraß kommt's nicht. Denn Wirklichkeit ist stets ein Raum, in dem viel Platz fürs Spiel der Phantasie ist.

Förster wäre nicht, wie, was und wer Förster ist, würde das Wechselspiel zwischen Wirklichkeit und Phantasie nicht funktionieren. Keine Figur des Marcel Proust, ist Wieland Förster ein Proustscher Mensch, dem nur Phantasie die wahre Wirklichkeit garantiert. In den Aufzeichnungen werden Ansichten der Außenwelt zu Innensichten. Das bedeutet, der Reisende hält Abstand zum Äußeren und riskiert ständig die gefährdende innere Annäherung ans Äußere. Das wiederum bedeutet, daß der Mensch Wieland Förster einem immer schmerzlichen Spagat ausgesetzt ist. „Balsam für mein trauriges Herz”, wie der Bildhauer und Graphiker sagt, ist ihm die Kunst und das Kunstmachen. Nicht der Mensch ist der beste Therapeut für den Menschen Förster. Materialien, das Papier, der Ton, der Stein sind seine Chancen, die ihn als künstlerischen Menschen möglich machen. Die Kunst gewährt ihm, seine Existenz hervortreten zu lassen und erstaunt zu sein über alles, was existent wird durchs künstlerische Tun. Der Künstler kann für Momente vergessen, daß das Leben lebenslanges Opfern ist. Die Geschichte des Lebens ist für den Künstler die Geschichte der Störung des Menschen durch den Menschen. Wieland Förster will kein - im konventionellen Sinne - Beispiel sein. Das hindert ihn nicht, sich in den Berichten als Beispiel fürs Leben zu geben. Für Leben, das durch Leben krank gemacht wird, also auch gekränktes Leben ist. Leben ist, wie es ist, ein fortwährender Schlag gegen das Herz, der ständig „Herzschmerz” verursacht. Herz ist das Hauptwort in Försters Betrachtungen. Der gestörte Rhythmus des Herzens ist der Rhythmus, den der Bildhauer-Schriftsteller als Normalität akzeptieren muß. Das „wild schlagende Herz” ist die ewige existentielle Herausforderung. Das heißt das permanente Risiko, denn das ist das Leben und nichts anderes. Wieland Försters Reisen sind Reisen durch das Leben von Wieland Förster. Seine Lebens-Reise-Berichte sind voller Abwehr des Todes, „der immer zu früh kommt”. Eigentlicher Inhalt der Aufzeichnung sind die immer wiederkehrenden Gedanken, die der Wirklichkeit und dem Tod widerstehen. Das schließt nicht aus, daß der Reisende immer auch ein geistreicher Reiseführer durch Landschaften und Städte ist. Reisegeschichten im traditionellen Sinne sind die Reisetagebücher des Wieland Förster nie. Die Reisetagebücher des Künstlers sind Lebensbücher. Verläßliche Begleiter für alle Tage, auf allen Wegen. Nicht für alle. Aber für immer mehr. Möglicherweise!



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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