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„In einem gewissen Sinne hat der Osten uns lebenstüchtiger gemacht ...”
Im Gespräch mit Helga Schütz

Das Thema meiner Doktorarbeit ist die Vergangenheitsbewältigung der Ex-DDR-Autoren nach der Wende. Es geht dabei um die Frage, ob und inwiefern die DDR-Literatur als erledigt anzusehen ist und inwieweit die Ex-DDR-Autoren der neuen politischen Realität gerecht geworden sind, ob sie ohne ihr früheres Existenzmilieu noch einen Zugang zu bedeutenden Themen finden und darüber schreiben können sowie darum, inwieweit sie von ihren Zeitgenossen vorurteilslos bewertet worden sind.
Sie, Frau Schütz, haben sich seit den 70er Jahren als Schriftstellerin in der DDR etabliert und gehören zu den bekanntesten DDR-Autorinnen. Ich möchte zuerst ein paar Fragen zu Ihrer Biographie stellen. Sie sind bis zum Ende in der DDR geblieben, obwohl Sie bereits 1980 aus der SED ausgetreten sind. Warum war das so, warum sind Sie bis zum Ende geblieben und haben die DDR nicht, wie viele andere Autoren, schon früher verlassen? Haben Sie an einen reformierbaren Sozialismus geglaubt?

Ja, ich habe an Veränderungen geglaubt. Nicht an so radikale Veränderungen, wie sie dann eingetreten sind, so viele Illusionen hatte ich nicht, weil ich wußte, wie die Machtblöcke aufgebaut und wie sie stabilisiert sind; ich wußte, wie jeder in Ost und West, von den die Menschheit bedrohenden Waffen. Seit dieser Zeit habe ich an die Möglichkeit einer Koexistenz beider Lager geglaubt - geglaubt ist sicher das richtige Wort, ich habe damit gelebt und bin damit umgegangen. Nicht für möglich habe ich gehalten, daß von beiden Mächten ein Entgegenkommen dasein könnte, die Konfrontation aufzuweichen, daß der Sozialismus unter dem Druck der Völker friedlich in sich zusammenfällt.

Waren Sie sehr aktiv in der Revolution 1989? Christa Wolf hat zum Beispiel an die DDR-Bürger appelliert, daß sie doch in ihrer Heimat bleiben sollten. „Wir sind das Volk” war da eine Losung. Waren Sie auch am Alexanderplatz dabei?

Ja, ich war dabei. Wir sind doch sehr dicht zusammengewachsen. Es gab Gespräche, es gab auch gemeinsame Resolutionen und Protestschreiben, und ich denke, ich habe mich beteiligt. Ich habe mich vielleicht ein bißchen anders verhalten, weil ich mich gefragt habe, was die Leute auf der Straße wirklich wollen. Es war mir von einem sehr frühen Zeitpunkt an, eigentlich schon, als es um Glasnost ging, klar, daß das für die DDR auch eine nationale Frage sein würde, daß man im Falle einer vernunftmäßigen Sicht auf die Dinge auch nicht mehr mit der Mauer würde leben können. Die Mauer mußte durchlässig werden, das war für mich und besonders für die jüngere Generation sehr, sehr wichtig. Daß sich mit dem Fall der Mauer auch das große Gefüge Sozialismus auflösen würde, das hatte ich nicht für möglich gehalten. Ich fürchtete Gewalt. Die Ereignisse in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens standen als Menetekel. Man konnte sich das Allerschlimmste denken. So habe ich eine Zeitlang nur gehofft, gebetet, daß sich die Dinge irgendwie vernunftmäßiger regeln lassen würden. Im Dialog. Man hat mit den Leuten, die eine Lesung auffliegen lassen sollten, zu reden versucht. Als die Mauer offen war, habe ich aber bald auch gesehen, es müsse ein enger Staatenbund werden, man könne die beiden deutschen Staaten nicht getrennt existieren lassen. Ich hatte allerdings geglaubt, im Gefolge der Annäherung würde es viele Reformen und eine große Lust zum Richtigermachen geben. Der Fall der Mauer, dieses Gesamtdeutschland nun auf einmal wieder, die Einheit gab es mithin für einige Wochen, das war für mich eine so entscheidende Veränderung in dieser Welt zum Guten hin, daß ich dachte, nun müsse es so weitergehen. Arbeitslosigkeit konnte ich mir nicht vorstellen.

Gab es auch private Gründe dafür, daß Sie in der DDR geblieben sind? Christa Wolf hat zum Beispiel gesagt, sie hatte Angst, ihren doch schon recht alten Vater alleine zu lassen. Gab es bei Ihnen auch solche Gründe, oder war das eine rein ideologische Entscheidung?

Es gab natürlich auch private Gründe, die mit der Familie zu tun hatten, aber auch mit Freunden, mit einem gewissen Umfeld, mit Bäumen und Bergen und mit allem möglichen. Ich fühlte, ich kann nicht einfach fortgehen. Es hatte auch ein bißchen damit zu tun, daß ich mich als zu leichtlebig empfand in dem anderen Land, wenn ich dort war. Ich bin ja doch hin und wieder mal gereist - und ich ging so durch die Straßen, und meine Phantasie versuchte, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn ich jetzt da hinter diesem Fenster wohnen würde und mein Leben darauf einrichten sollte und das wäre mein ganzes Umfeld. Ich habe damals keine Reibungsflächen gesehen, und auch niemand, der mich in einem gewissen Sinne braucht.

Haben Sie damals Probleme gehabt, ein Visum zu bekommen, wenn Sie reisen wollten, zum Beispiel, um irgendwo einen zu Vortrag halten?

Es gab immer Probleme. Es ging manchmal leichter und manchmal schwieriger und manchmal gar nicht. Die Amerikareise 1985 zum Oberlin-College ist mir zum Beispiel dreimal abgesagt worden, obwohl Ulrich Plenzdorf und Christa Wolf schon dort gewesen waren. Das war noch in tiefer DDR-Zeit. Der Wurm war drin. Jemandem hat es nicht gefallen, daß ich die Reise antrete. Vielleicht war es nur Neid. Vielleicht hatte ein Interview nicht gefallen. Die Reise mit Irmtraud Morgner dagegen lief glatt. Und so ging das immer. Mal gab's ein Visum. Mal hieß es: Wir sind daran nicht interessiert.

Es gab zahlreiche Schriftsteller in der DDR, die entweder Kontakte mit der Stasi gehabt haben oder sogar als IM für die Stasi gearbeitet haben. Wie denken Sie darüber, zum Beispiel über Christa Wolfs oder Heiner Müllers Kooperation oder Monika Marons Stasi-Kontakte?

Das ist ein sehr, sehr schwieriges und weites Feld. Ich wunderte mich, daß sie darüber nicht gesprochen haben. Ich meine mit Freunden. Aber ich höre, daß es einen Mechanismus gibt, solche Dinge, die einem nicht mehr eigen sind, die einem nicht mehr angehören, zu verdrängen, also Dinge, die sozusagen für einen selbst abgeschlossen sind. Das verstehe ich. Ich habe mich daraufhin selbst geprüft und habe mich gefragt, ob ich etwa auch irgendwie einmal auf dem Sofa gesessen habe mit jemandem, der mich anwerben wollte. Das ist natürlich auch ein wenig unheimlich, und man denkt sich: Um Gottes willen, wie im Schlafe kann einem das auch selber passieren. Nun, was die Stasi betrifft, habe ich so einen dunklen Fleck nicht.

Blieben Sie verschont von den Heimsuchungen der Stasi?

Nein, ich blieb nicht verschont. Mir passierte das in Dänemark, wo man es eigentlich nicht vermutet, daß jemand auf einen zukommt und für die Stasi werben möchte. Ich habe das aber meinen Leuten, die mit in Dänemark waren, sofort erzählt. In der nächsten halben Stunde wußten es alle. Ich bilde mir ein, das hätte man in diesen Zeiten - das war schon in den 80er Jahren, es war nicht die frühe Zeit der DDR - schon tun können. Bei den anderen, die Sie erwähnt haben, liegt die Sache ja weiter zurück. Zu der Zeit, als ich angesprochen wurde, war das die beste Methode, bilde ich mir ein.

Eine Mitarbeit kam für Sie nicht in Frage?

Nun, ich habe auf die Fragen, die mir gestellt wurden, nicht geantwortet, und ich habe weitererzählt, was der Kerl wissen wollte. Damit war das erledigt für alle Zeiten.

Ich habe erfahren, daß Sie dann Opfer der Stasi-Bespitzelung waren. Haben Sie das damals gewußt und darunter gelitten?

Ich habe es gewußt. Man hat gewußt, daß es die Stasi gibt und daß die Stasi versucht, einen durch alle möglichen Kanäle - Telefon abhören, Post mitlesen, und auch durch Spitzel im Bekanntenkreis - zu bewachen. Nur wußte man nichts genau, und man ist manchmal sehr locker mit dieser Sache umgegangen. Aber es gab auch Augenblicke der Angst, die einen nicht an erster Stelle selbst betrafen, weil Schriftsteller von einem ganz bestimmten Punkt an öffentliche Personen sind, denen nicht mehr allzu Schlimmes passieren kann. Die West-Medien hätten sofort reagiert. Der Fall Biermann - das hatte zwar mit der Stasi in dem Sinne nichts zu tun - zeigte, daß man mit ihm nicht einfach so umspringen konnte. Christa Wolf etwa hätte man nicht einsperren können, das wäre nicht möglich gewesen. Die Sorge betraf die Familie, die Kinder vor allem, und da hatte man eben große Angst.

Man fragt sich, wie die Intellektuellen in der DDR überhaupt zur Macht standen. Konnte ein Schriftsteller überhaupt autonom fungieren? Es heißt, daß prominente Schriftsteller immer angeworben wurden, für die Stasi zu arbeiten, oder beim Schreiben durch die Zensur kontrolliert wurden.

Das ist aber ein Unterschied. Zwischen Stasi und Zensur, denke ich, besteht ein großer Unterschied. Zensur, das ist irgend etwas, das einen beim Schreiben von außen leitet. Das kann die Staatsmacht sein, das kann aber auch der Markt sein, wenn man eine Strategie dafür entwickelt, was gefordert und was gut ist, damit die Manuskripte eine Öffentlichkeit bekommen. Das ist immer noch zweierlei - Schreiben und in den Buchhandlungen präsent zu sein.

Ja, der Unterschied ist offensichtlich. Da haben Sie völlig recht. Aber ich frage mich, ob ein Schriftsteller auch unabhängig von der Kulturpolitik der DDR schreiben konnte. Oder wäre das damals unmöglich gewesen?

Es ist für einen Schriftsteller kaum möglich, ganz unabhängig zu schreiben. Man läßt sich ja auf irgend etwas ein, auf eine Öffentlichkeit oder auf sich selbst. Man reflektiert Dinge, die einen direkt betreffen. In dem Sinne kann man natürlich nicht unabhängig sein; man wird auf seine Umwelt reagieren. Die jungen Autoren der 80er Jahre meinten zwar, sie hätten einen ganz anderen Blick entwickelt und für sie wäre das Schreiben etwas anderes gewesen als für die Generation vor ihnen, die immer noch etwas bewirken wollte, die sich mit der Kulturpolitik auseinandersetzen wollte. Diese junge Generation war der Meinung, sie hätte die Fenster zugemacht, was ich nicht ganz glaube. Es war zwar wieder ein anderer Blick, aber er ging im Grunde doch auch wieder nach draußen. Auch sie legte es darauf an, wahrgenommen zu werden.

Wie stehen Sie zu dem Streit, der von Frank Schirrmacher u. a. in der FAZ entfacht wurde. Da hat man ja die DDR-Diktatur mit der des Dritten Reiches verglichen. Können Sie - als Bürgerin und Schriftstellerin der Ex-DDR - damit einverstanden sein, daß man so vergleicht? Ich habe damit Probleme gehabt. Für mich ist der Sozialismus ein großes Experiment, das tragisch gescheitert ist.

Das ist natürlich problematisch. Ich glaube, das ist nicht zu vergleichen, das ist wirklich etwas ganz anderes. Die Nazi-Diktatur war auf die Ausrottung eines ganzen Volkes, des jüdischen Volkes, aus und hatte bis auf den Rassenwahn keine Grundlagen, keine Utopie, die etwas im Sinne der Gesellschaft verändern wollte. Das ist der entscheidende Unterschied. 1945 sind die Kommunisten nicht mit dem Plan angetreten, die Nazi-Diktatur fortzusetzen, im Gegenteil, sie kamen aus der Emigration oder aus dem KZ. Die junge Generation hatte das Gefühl, ein verbrecherisches Regime sei beendet worden und man müsse alles dafür tun, daß es so etwas nicht mehr geben könne. Dazu waren bestimmte Voraussetzungen nötig. Eine dieser Voraussetzungen war, daß es nicht mehr zu Krisen innerhalb des Kapitalismus kommen dürfe, die dann im Endstadium zum Krieg und zum Faschismus führen. Das war ziemlich kurzschlüssig, aber immerhin war es ein schöner Gedanke, beziehungsweise Traum. Der Marxismus, den ich damit anspreche, hat bestimmte Überlegungen ausgeklammert, vieles, was man über die Menschennatur mindestens seit Sigmund Freuds Blick in die Tiefe weiß. Von daher schließt sich so eine Utopie in einer Zeit aus, wie es die Jahrzehnte nach 1950 waren. Der Sozialismus hatte in Konkurrenz mit der durch Marktgesetze regulierten Welt gar keine Chance. Die Schäbigkeiten der Machtkämpfe waren von vornherein Zeichen der Ohnmacht. Damit ist das Scheitern des Sozialismus kein Grund, für alle Zeit froh zu sein. Der Vergleich des DDR-Regimes mit dem des Dritten Reiches ist absolut schräg.

Wie standen Sie denn zu der Debatte um Christa Wolf und die DDR-Literatur allgemein, die gleich nach der Wende entfacht wurde? Haben Sie auch Artikel geschrieben und sich an diesem Streit beteiligt?

Nein. Das hat mich nicht erreicht. Ich habe diesen Streit, bei dem es um die DDR-Literatur ging, aus der Entfernung zur Kenntnis genommen. Wahrscheinlich hatte ich im Garten zu tun.

Nach der Wende haben Sie den Gegenwartsroman „Vom Glanz der Elbe” (1995) geschrieben. Ihn möchte ich in meiner Arbeit behandeln und gerne von Ihnen wissen, wie die Wende auf Ihren Roman, beziehungsweise auf Ihr Schreiben überhaupt eingewirkt hat.

Ich hatte das Gefühl, daß ich nach der Wende anders schreiben würde. Ich glaubte, daß von mir eine gewisse Last genommen würde, die mit den Medien zu tun hatte, da man als Schriftsteller im Grunde immer ein wenig dazu aufgefordert war, listig zwischen den Zeilen das zu berühren, was überall verschwiegen wurde, die Menschen aber bewegte. Ein Schriftsteller hat mit fiktiven Geschichten die Möglichkeit, vieles an Wahrheiten zu transportieren, an Begebenheiten, die zwar den Alltag nicht eins zu eins übersetzen, bei denen es aber etwas zwischen den Zeilen zu entdecken gibt. Deswegen sind, glaube ich, auch etliche Bücher von bestimmten Autorinnen und Autoren sehr gern gelesen, sehr viel gekauft worden - weil sich die Leute selber darin wiederfanden. Nach Lesungen wurde übers Leben geredet. Nicht über Literatur.

Nach der Wende?

Nein, ich meine zu DDR-Zeiten. In der DDR-Literatur lebte viel Alltag. Schicksale von Menschen, die später auf den Straßen riefen: Wir sind das Volk. Das machte auch das Interesse aus, das der Westen für die DDR-Literatur hatte. Es war im Grunde eine Möglichkeit, hinter die Mauer zu blicken, ohne daß man dorthin fahren mußte. Es war ein Blick in diese seltsame, andere Welt. Mit dem Fall der Mauer und auch der Zensur und mit der Veränderung der Medien, des Fernsehens und der Zeitungen, die plötzlich schrieben, was passierte, und was den Alltag betraf, hatte ich das Gefühl, ich würde wieder zurückkehren zu den eigentlichen Aufgaben der Literatur. Ich glaubte, ich würde jetzt fabulieren; ich würde jetzt die geschlossene klassische Form wiederfinden, die mir der ewige Alltag mit hundert seltsamen Gesichtern und Geschichten immer zerschnitten hatte. Das aber passierte nicht. Es war eine der vielen Illusionen, daß ich nun plötzlich in klassischer Strenge würde erzählen können. Das Leben war nicht leichter, nicht klarer, im Gegenteil, das meiste war undurchsichtiger, verschwommener geworden. Das hätte mich nicht überraschen dürfen. Beim Schreiben hat es sich bald erwiesen, es ist trotz Wende, wie es war, und in dem Sinne unterscheidet sich das Buch vom Glanz der Elbe überhaupt nicht so sehr von dem, was ich vorher geschrieben habe. Es fügt sich im Grunde bruchlos an. Sicherlich hat sich einiges geändert in der Weltsicht. Der Mensch ist ein komplexes Wesen. Der Fall der Mauer hat irgendwo seinen Platz. Es ist auch gut so, daß das Schreiben immer noch das gleiche ist, am Schreibtisch, daß man mit sich alleine ist und versucht, etwas in Worte zu fassen, und ein Wohlgefühl dabei hat, wenn ein Satz gelingt. Ein Roman, der von der Mauer handelt, meint möglicherweise ganz andere Grenzen.

Sie haben in einem Essay mit dem Titel „Once I Lived Near the Wall” geschrieben: „Meine Welt war immer noch in den Fugen. Aus den Fugen brachte sie nur die Phantasie” (In „Gute Nacht, du Schöne. Autorinnen blicken zurück”, 1991). Ging es hier um die Phantasie beim Schreiben? Haben Sie nach der Wende Schwierigkeiten gehabt zu schreiben? Würden Sie sagen, Sie selbst haben nach der Wende, wie manche Schriftsteller, so eine Art Desorientierung, einen Bruch in Ihrem Leben erlebt, ähnlich wie nach 1945? Sie haben ja einmal gesagt, daß das Jahr 1945, das Ende des Krieges, ein ganz wichtiger Bruch für Sie war. Könnte man meinen, daß das Jahr 1989 auch ein Bruch in Ihrem Leben ist?

1945 war ich noch sehr jung, gerade mal acht Jahre alt, und ich kann natürlich nur in der Rückschau, andererseits aber auch wieder sehr konkret schildern, wie es war. Es war im Grunde noch existentieller als heute: Man hatte ständig den Tod im Nacken. In Schlesien und in Dresden, als die Stadt bombardiert worden ist, habe ich ihn zweimal sehr nahe erfahren. Es ging einfach darum, daß endlich Schluß sein mußte. Das Ende des Krieges war eine Erlösung, und die Rote Armee ist von mir als Befreier angenommen worden, weil von diesem Moment an keine Bomben mehr fielen. Ich habe zwar miterlebt, daß mein Vater Angst hatte und vor den Russen geflohen ist, aber es war trotzdem etwas anderes. Er kam nach 14 Tagen glücklicherweise wieder, und man fing an aufzubauen. In diesem Sinne war 1945 ein Sprung vom Tod ins Leben. 1989 wurde ein Stückchen Unvernunft, ein unzeitgemäßer Eingriff in Lebens- und Bewegungsräume aufgehoben. Aber so einen Bruch in mein Leben hat die Wende nicht gebracht.

Und das Zitat?

Ich müßte den Kontext dieses Satzes kennen. Ich weiß nicht mehr, worauf er sich bezog. Wenn er sich aufs Schreiben bezogen hat, dann kann ich sagen, daß ich damals nicht glaubte, daß ich Schwierigkeiten haben würde. Nach der Wende fühlte ich mich freier, allerdings nicht so sehr von Tabus. Das ist eine ganz andere Sache, die nicht einmal das allerwichtigste war.

Haben Sie sich ohne die Zensur freier und ungehemmter gefühlt?

Ja, aber das ist mehr eine äußere Angelegenheit. Das betrifft nicht so sehr die Schreibhaltung. Ich konnte mich nach der Wende bestimmten Dingen zuwenden, die ich vorher ausgeklammert habe, wobei man sagen muß, daß Zensur ja doch immer institutionell ist. Aber Tabus, das ist etwas anderes als Zensur. Für mich gab es auch einige innere Tabus, die ich von mir aus nicht berührt habe.

Ist das jetzt noch so?

Das wandelt sich mit der Zeit, das hat sehr, sehr persönliche Gründe. Es gibt im Leben Dinge, die einen besonderen Entschluß brauchen. Und da gibt es auch öffentliche, politische Dinge, bei denen man glaubt, die Zeit ist dafür noch nicht reif. Das ist einfach so.

Können Sie da Beispiele nennen?

Schwache und Kranke oder religiöse Gefühle haben einen Schutzraum. Was politische Themen angeht, so fällt darunter zum Beispiel manches, was mit der Vertreibung zusammenhängt, mit der Oder-Neiße-Grenze oder auch mit dem Ende des Krieges, dem Verhältnis zur Sowjetunion, zur Roten Armee, zum 8. Mai 1945. Das sind Stoffe, die sich mit den erzählten Geschichten wandeln, weil die Last der Verantwortung nicht immer gleich schwer bleibt. Schreiben ohne Verantwortung - wahrscheinlich geht das nicht, wahrscheinlich verliert der Stoff dann an Wahrheit.

Sie waren vor der Wende in der DDR sehr bekannt. Haben Sie nach der Wende etwas Spezifisches getan, um Ihre Wirkung als eine deutsche Autorin zu verstärken, um mehr Leser im Westen für sich zu gewinnen? Ich denke da an Lesungen, Vorträge, Essays und dergleichen?

Nein, da habe ich von mir aus nichts getan. Meine Sache ist das Schreiben, und das andere ist die Angelegenheit der Verlage. Sicherlich stellt sich im Hintergrund die Frage, ob das, was man schreibt, auch eine gewisse Wirkung hat. Aber ich muß sagen, das verdränge ich.

Glauben Sie, daß Sie für eine bestimmte Leserschaft schreiben und daß ihre Bücher den Leser schon selbst anziehen beziehungsweise, daß die Leser selbst zu Ihnen kommen?

Ich bilde es mir ein. Das kann funktionieren oder eben auch nicht. Wie man die Sache dann aufnimmt, das ist eine Charakterfrage. Man kann sich auf eine bestimmte Weise vor sich selbst rechtfertigen, oder man reagiert vielleicht bestürzt.

Haben Sie Lesungen aus dem Roman „Vom Glanz der Elbe” gemacht?

Ja, ich lese immer wieder mal daraus, zum Beispiel beim Elbhangfest in Dresden, was mir auch Spaß macht. Das Publikum dort hatte sich besonders für lokale Elemente interessiert, und da suchte ich eben auch ein paar Szenen aus, die in Dresden spielen.

Bei den Ex-DDR-Autoren werden drei literarische Tendenzen in den 90er Jahren zusammengefaßt. Zum einen unterscheidet man Autoren, die die deutsche Gegenwart mit Bezug auf kanonische Texte von Goethe, Heine, Thomas Mann u. a. widerspiegeln. Ich nenne hier nur Volker Brauns Werk „Iphigenie in Freiheit” (1992) als Beispiel. Die zweite Gruppe umfaßt diejenigen, die sich ihren eigenen Biographien widmen, so wie Günter de Bruyn mit „Zwischenbilanz” (1992) und „Vierzig Jahre” (1996) oder Monika Maron mit „Pawels Briefe” (1999). Drittens setzen sich manche Autoren in ihren neuen Büchern bewußt mit dem Alltag der DDR auseinander, indem sie, sich erinnernd, die Vergangenheit aufarbeiten. Man glaubte, in diesen Tendenzen „eine neue nationale Identitätssuche sowie eine spezifische Weltorientierung mittels Literatur” entdeckt zu haben. Kann man Ihren Roman „Vom Glanz der Elbe” auch dazu rechnen? Als ich den Roman las, erinnerte mich die angedeutete Geschwisterliebe zwischen Adam und Anna an Thomas Manns „Wälsungenblut” (1921). Sie selbst haben im Roman auf Goethes und Nietzsches Beziehung zu ihren Schwestern angespielt, und ich dachte, Sie haben im Werk mit der Inzestidee gespielt. Haben Sie das ironisch gemeint und die Frage absichtlich in der Schwebe gehalten? Ich finde, man kann bei der Lektüre des Romans nie ganz genau sagen, was wirklich vorgefallen ist, besonders in dieser abendlichen Szene zwischen Adam und Anna auf dem Feld. Aber ich hatte schon das Gefühl, daß da etwas geschehen wäre.

Ja, das ist offen. Eigentlich sagt man ja, wenigstens der Autor sollte wissen, was geschehen ist, und er sollte auf so eine Frage Auskunft geben können. Ich kann es nicht, oder ich will es vielleicht auch nicht, ich will es nicht fixieren. Was genau geschehen ist, soll offen bleiben. Mit der literarischen Traditionslinie habe ich mich nicht bewußt auseinandergesetzt. Es hat eher autobiographische Hintergründe, daß ich so eine Konstellation gewählt habe. Und es ist eben auch so ein Mythos, daß Geschwister getrennt werden, sich wiederbegegnen oder sich suchen. Es läuft in Vom Glanz der Elbe und In Annas Namen (1986) auch ein wenig anders. Im Grunde wußten die beiden, Adam und Anna, ja immer voneinander, sie wußten nur nicht, ob sie denn wirklich Geschwister sind. Man hatte sie gemeinsam aufgefunden, und es wäre gut möglich, aber die Heimleitung brauchte die Verwandtschaft der beiden Kinder zu dieser Zeit nicht. Es paßte nicht in den Kram, daß die beiden zusammengehören. Es war aus bestimmten Gründen lästig. Die beiden sollten getrennt in einem Mädchen- und einem Jungenheim aufwachsen, und sie waren als Einzelkinder leichter in Pflegefamilien zu vermitteln. Diese Ignoranz, Zeugnisse vernichten, Gesetze wegwischen, wenn es eine Sache erleichtert, diese Fahrlässigkeit wurde der Ausgangangspunkt von Anna und Adam.
Man hat den Gedanken, die beiden könnten Geschwister sein, einfach nicht verfolgt, so, wie manches verdrängt und vergessen wurde, was einmal Herzstück des Sozialismus war. Die Emanzipation der Frauen ist dafür ein treffliches Beispiel. Als man anfing, in Krankenhäusern zu sparen, wurden als erstes keine Ärztinnen mehr eingestellt. Ihre Arbeitskraft war nicht rundum verfügbar. Als Folge hatten Mädchen weniger Chancen beim Medizinstudium. Ich will sagen, die Geschwistergeschichte, sie paßte nicht in ein öffentliches Gebäude, wo Jungen und Mädchen getrennt aufwuchsen. Bei anderen Geschwisterpaaren mag das anders gehandhabt worden sein, aber in diesem einen Fall mochte niemand ihre Zusammengehörigkeit aufklären. Nur die beiden haben immer dieses Läuten in ihrer Seele gehört. Sie spürten, daß sie etwas hielt. Als Waisen hatten sie ja nirgendwo Wurzeln. Das einzige, was ihnen Halt gab, war dieses Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich auf wenigen Notizen eines Erziehers stützen konnte, vor allem aber ihrer Imagination entsprang.

Das erzeugt ja auch ziemlich viel Spannung im Roman. Sie sagten eben, Sie hätten aus autobiographischen Gründen über Geschwisterliebe geschrieben?

Das ist richtig. Man darf das natürlich nicht so eng sehen, die Geschichte läuft nicht einfach parallel zu meiner Biographie. Aber es gibt Erlebnisse, die in diese Richtung gehen. Ich bin in dieser Zeit schon älter gewesen. Ich war 1945 kein Baby mehr. In dem Kinderheim, in dem ich war, tauchte ein gleichaltriger Junge auf, in dem so etwas Brüderliches vermutet werden konnte. Natürlich ist das eine Sache, die ich nicht parallel setzen kann mit den Ereignissen im Roman. Das sind eher Phantasien, die mit meinem kindlichen Alltag zu tun hatten.

Es ist bekannt, daß Schriftsteller Elemente aus ihrer Erfahrungswelt aufgreifen, sie aber für ihre Werke bearbeiten und nicht einfach eins zu eins übertragen.

Richtig. Und man baut sich auch Dinge auf. Ich bin zum Beispiel von mir sehr nahestehenden Personen angesprochen worden, die meinten: „Du hast doch in deiner Kindheit einmal etwas von einem Zwilling erzählt. Ist das dieser Zwilling, dieser Adam?” Ich war ganz überrascht, daß ich jemals so etwas erzählt haben konnte. Ich weiß aber, daß es so ein Erlebnis gegeben hat, während ich nach dem Angriff auf Dresden eine Zeitlang ohne Wurzeln und ohne Familie gelebt habe.

In Ihren bisherigen Werken haben Sie, wie Ihr Vorbild Jean Paul, eine Vorliebe für das Leben kleiner Leute gezeigt. Steht dieser Roman, in dem es Amely als Putzfrau, Cosimo als Müllabfuhrersatzmann und Gelegenheitsschreiber und den Professor als Taxifahrer gibt, auch in dieser Tradition? Die erzählten ostdeutschen Biographien tragen doch den Zug der „Verlierer”. Zeigen Sie damit Ihre Sympathie oder Ressentiments?

Weder noch. Ich erinnere mich an eine Kritik, die auch diesen Punkt betraf. Da ging es darum, daß ich alle verlieren lassen würde. Ich finde durchaus nicht, daß das so ist. Ich sehe Amely überhaupt nicht als Verliererin. Sie hat zwar ihren Job verloren und wohnt nicht gerade komfortabel, aber sie ist unerschrocken. Sie krempelt die Ärmel auf, und sie fühlt, daß die Erfüllung anderswo schlummern wird. Im sozialen Auf und Ab liegt sie sicherlich nicht. Es gibt Menschen, die sind nirgendwo und in keiner Situation Verlierer. Lebenskünstler. So jemand ist Amely.

Adam ist doch ein verheirateter Mann, mit Judy. Aber er hat während seines Forschungsjahres in Potsdam-Steinstücken mit zwei anderen Frauen geschlafen, nur weil sie Anna ähnlich sind.
Es muß in seiner Ehe ja wohl einen Grund dafür geben, daß er fremdgeht.

Das stimmt. Seine Ehe mit Judy ist ziemlich seltsam. Es ist eine freundschaftliche, fast eine geschwisterliche Beziehung. Ich habe sie ja nur am Rande behandelt, aber es wird deutlich, daß die beiden keine Kinder haben und vor allem mit ihrem beruflichen Werdegang beschäftigt sind. In der Beziehung zueinander lassen sie sozusagen das Innerste unberührt, sie sind vielleicht auch gar nicht dazu in der Lage, den anderen zu erkennen. Ein Grund dafür mag die Herkunftsferne der beiden sein. Es ließe sich eine ganze, eigene Hintergrundgeschichte, die hier in den Details schlummert, entfalten. Adam und Judy haben keine Kinder, obwohl sie vielleicht gerne welche hätten. Sie sprechen zum Beispiel in der Kindersprache miteinander, wenn sie sich etwas Zärtliches sagen wollen. Für mich sind das Anzeichen, daß die beiden sich zwar aneinander halten und auch gegenseitig aufrichten, aber daß ihre Beziehung nun vielleicht doch nicht die große Erfüllung ist.

Dann wird Adams Handeln natürlich verständlicher.

Genau. Was sich in Steinstücken abspielt, das bleibt ja auch ohne Folgen. Da ist nichts, woraus sich eine nachwirkende Liebesbeziehung entwickelt. Das ist ja ohnehin Adams großes Manko, daß er Bindungsängste hat und immer etwas sucht, wie ja auch seine Schwester, aber dann gleich wieder einen Haken schlägt. Nicht einmal zu einem planvollen Suchen ist er in der Lage. Gewiß ist Anna für ihn das große emotionale Erlebnis gewesen. Die anderen, Judy, Amely, haben ihm ein freundliches Geschick beschert. Adam ist ein zerrissener Mensch, der nicht zu finden wagt, was er im Leben sucht.

Haben Sie eigentlich ein Vorbild für diesen Physiker, den Pflegevater von Adam, gehabt?

Es gibt Vorbilder für den alten Physiker, die ich näher gekannt habe, es sind zwei, die zu einem geworden sind. Beide waren in den Fünfzigern für mehrere Jahre in der Sowjetunion.

Der Roman „Vom Glanz der Elbe” bietet Erinnerungsarbeit mit Gegenwartsperspektiven, die allerdings nur von einem Deutsch-Amerikaner geleistet werden. Wollen Sie damit Distanz schaffen, mit Distanz die Vergangenheit aufarbeiten? Der Roman handelt ja nicht von einem Deutschen, der vierzig Jahre hier gelebt hat, sondern von einem, der vierzig Jahre lang weg war und zurückkam, um nach seinen Wurzeln, nach seinem inneren Leben zu suchen. Der Schauplatz ist nicht nur Dresden, womit der Leser durch Jettes Geschichte („Jette in Dresden”, 1977) bereits vertraut ist und wo Adams Kindheit und Jugendzeit auch angesiedelt sind, sondern auch Steinstücken, eine Westberliner Exklave direkt an der Mauer. Wollen Sie damit die spezielle Stellung Adams hierzuland zum Ausdruck bringen?

Steinstücken ist ein ganz besonderer Ort. Eigentlich spiegelt sich in Steinstücken noch mal die ganze Welt. Berlin selber ist eine geteilte Stadt in einer geteilten Welt, Steinstücken ist ein Teil von Westberlin, der in den Osten hineinragt und selbst durch eine Bahnlinie, also im Grunde durch ein technisches Instrument, noch einmal geteilt ist. Es gibt in diesem kleinen Ort so viele Grenzen, daß man das gar nicht klar beschreiben kann. Die Situation mutet chaotisch an. Mehr muß man von dem Ort nicht begreifen.

Welche Rolle spielen die vermeintlichen Zwillinge? Sollen sie symbolisch interpretiert werden, wie zum Beispiel der große Bruder aus Westdeutschland und seine ostdeutsche arme Schwester?

Nein, eine solche symbolische Interpretation habe ich gerade vermeiden wollen. Der tüchtige Bruder aus dem Westen und die dumme Liese aus dem Osten, die erst mal kapieren muß, wo es langgeht, das wollte ich um keinen Preis. Adam kommt ja selbst aus dem Osten, und er ist im Vergleich mit Anna eigentlich weniger lebenstüchtig. Er hat zwar eine sogenannte Karriere gemacht, aber das hilft ihm in manchen Situationen nicht. Anna ist viel couragierter. Da sehe ich natürlich, wenn man so sagen will, etwas Typisches. In einem gewissen Sinne hat der Osten uns lebenstüchtiger gemacht. Wir haben zum Beispiel viel weniger Psychiater gebraucht im Osten (lacht). Das mögen andere Leute wieder ganz anders auslegen und sagen, im Osten hätten die Menschen ihre Neurosen und Psychosen eben unterdrückt und die Mauer hätte ihnen schon genug Leidensdruck verursacht. Das kann man so sehen, aber man kann es eben auch von der anderen Seite her betrachten. Diese Ost- und West-Klischees wollte ich jedenfalls vermeiden. Deshalb habe ich ja auch die Biographien der beiden so verschränkt gestaltet, damit es eben keine klare Ost-West-Aufteilung gibt.

In einem Interview mit Monika Melchert in der Zeitung „Freitag” vom 8. Februar 1991 haben Sie gesagt: „Ich möchte immer wieder von vorne ansetzen, und in meinen Büchern ist ständig irgendwo der Versuch darin, noch einen Aspekt zu finden, um die Geschichte und die Figur der Jette genauer von ihrer Kindheit her zu beschreiben.” Kann man diese Aussage auf „Vom Glanz der Elbe” übertragen? Kann man die vielen Nebenstränge und Nebenhandlungen in dem Roman mit dieser Aussage interpretieren? „Vom Glanz der Elbe” hat doch zahlreiche Nebenhandlungen, von denen die meisten offenbleiben - die Amely-Geschichte zum Beispiel.

Es gibt auch in Vom Glanz der Elbe Spuren, die deutlich ein Stück eigene Biographie nachtragen, um Zeitgeschichte zu fixieren, die ungefähr die meine ist: Kriegs- und Nachkriegszeit, zwei Weltlager, dann der Zusammenbruch des Sozialismus. Das versuche ich im Sinne dessen, was Sie da zitiert haben, zu tangieren. Es ist aber nicht so deutlich wie in den anderen Büchern, und auch nicht so wie in dem, das ich jetzt gerade fertiggeschrieben habe. Da kann ich sagen, daß sich meine Aussage bestätigt.

Ein Kritiker des Romans nennt „Vom Glanz der Elbe” „ein erzähltechnisches Verwirrspiel”. Was halten Sie einer solchen Kritik entgegen, die beklagt, daß der Roman doch ziemlich verästelt sei?

Das trifft in einem gewissen Grad zu. Die Struktur des Romans hat sich mir fast aufgezwungen. Mein Interesse geht eigentlich eher dahin, etwas Gradliniges zu schreiben, also eine klassische Erzählung. Aber da hat sich nun wieder meine Hoffnung, oder meine Vermutung, daß die Konflikte des Alltags nach der Wendezeit nicht mehr mit so existentiellem Druck die Literatur prägen würden, nicht bewahrheitet. Das Leben ist voller Wucht und Überraschungen. Das ist der Grund dafür, daß bei mir Geschichten nicht stringent verlaufen. Ich denke mir, ich muß gegen die Leser aufrichtig sein und so schreiben, wie es mir gemäß ist und wie ich meine Fabel verfolgen möchte. Dazu gehört, daß ich manchmal die Haupthandlung in den Hintergrund rücke und etwas anderes hervorhebe. Ich kann dazu eigentlich nur sagen, daß mir das nicht unterläuft, sondern ich mir dessen durchaus bewußt bin, daß ich keine geradlinige Geschichte schreibe. Die Irritation habe ich gewollt. Die Montagetechnik des Films kommt mir entgegen. Zwei Teile regen eine andere Blickrichtung an. Man schaut tiefer, hat allerdings wenig Balken zum Festhalten, findet zum Beispiel nichts, was ein Rezensent als abgezogene Weisheit zitieren könnte.

Ich denke, für die Literaturkritik, für die Literaturwissenschaft liegt der Wert der Literatur auch darin, daß der Text auf verschiedenen Ebenen operiert.

Ich hoffe, für die Leser auch. Man erzählt heute anders. Nicht, weil es einem gerade so durch den Kopf schießt, und nicht, weil man den Leser ärgern will, sondern weil die Welt nicht mehr so übersichtlich ist. Es liegt nur zu einem Teil in meinem Ermessen.

Für manche Leser ist das vielleicht ein wenig schwieriger zu lesen. Denken Sie, daß die Art Literatur, wie Sie sie schreiben, anders konstruiert werden kann als etwa ein Unterhaltungsroman?

Sicherlich. Ich will es nicht ausschließen, daß es sich bei einer Geschichte wirklich anbietet, einer Handlung oder einem Gedanken ganz geradlinig zu folgen. Aber für mich ist die Montagetechnik, auch mit dem Wissen um die damit verbundenen Irritationen, einfach notwendig gewesen.

Verspüren Sie da als Schriftstellerin auch eine gewisse Spiellust?

Ja, sehr viel Spiellust, aber auch eine gewisse Verantwortung, Dinge nicht unter den Tisch fallen zu lassen. Korrespondenzen herzustellen. Spiel und Kalkül, ja.

Warum haben Sie in diesem Roman einen Mann, Adam Brühl, als Protagonisten gewählt? Bisher haben Sie doch nur Frauengestalten als Protagonistinnen dargestellt.

Adam war durch den vorigen Roman präsent. Er stand als Widerpart zu Anna auf dem Plan. Ich konnte mich seiner Geschichte nicht entziehen. Ich fand es reizvoll, einmal einen Mann als Zentralfigur zu haben. Aber ich spürte bald, daß dieser Mann nicht alles, was ich erzählen wollte, tragen konnte. Und da kommen wir wieder zu dem Punkt, den wir vorher besprochen haben. Ich setze Figuren, die das Ensemble ergänzen, die andererseits aber auch wieder die Struktur bestimmen, Umwege nötig machen.

Glauben Sie an ein spezifisch weibliches Schreiben? Gibt es solches Schreiben bei Ihnen?

Das herauszufinden, denke ich, ist Aufgabe der Literaturwissenschaft. Ich weiß es nicht. Ich bin eine Frau und werde wohl schreiben wie eine Frau. Es ist meines Wissens noch nie der Versuch gemacht worden, daß man Bücher von Männern und Frauen ohne die Autorennamen etwa an Universitäten lesen läßt und herauszufinden versucht, was denn nun das Weibliche und was das typisch Männliche daran ist.

Würden Sie, wenn Sie heute einen neuen Roman schrieben, diese Figuren so darstellen wie zum Beispiel im Jahre 1995? Würden die Veränderungen seit 1990, etwa die Arbeitslosigkeit im Osten, eine Rolle spielen?

Ich habe eben einen Roman geschrieben, der nicht nach 1990 spielt, sondern in der Vergangenheit angesiedelt ist. Der Roman spielt in den Jahren bis etwa 1976. Da ist der Alltag von heute nicht so sehr im Vordergrund. Es gibt darin zwar auch eine sogenannte Arbeitslose, aber die beschäftigt sich durchaus und verdient auch Geld, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In dem Roman kommt es zu andern Konflikten. Ich glaube aber trotzdem, daß ich keinen historischen Roman geschrieben habe. Es ist doch auch ein Buch von heute, nur geht es vielleicht um zeitlose Angelegenheiten.

Geht es da wiederum um kleine Leute?

Ja, auch wieder um sie. Dazu gehört das, was ich vorhin angedeutet hatte, daß einem eben manchmal der Tod nahekommt, daß man so eine Sache zu bewältigen hat oder darüber schreiben möchte. Angesichts solcher Ereignisse treten diese ganzen Jahreszahlgeschichten, Vor- und Nachkrieg usw. sehr weit zurück. Man merkt plötzlich, wie Aufregungen um Zeitereignisse entstehen, die es gar nicht verdienen, eigentlich auch in der Literatur nicht. Die Medien stiften so was an.

Wie meinen Sie das - Jahreszahlgeschichten?

Ich meine einfach, daß man glaubt, das Leben der Leute 1991 oder 1995 oder 1998 würde sich so sehr von dem in den Jahren 1970 oder 1940 unterscheiden. Wenn man sich überlegt, wo die wirklich wichtigen Einschnitte im Leben liegen, dann merkt man, daß die mit den Zäsuren in den Geschichtsbüchern oft nicht übereinstimmen. Es mag sein, daß das noch irgendwo einfließt, aber zu Einteilungen in Epochen kommt man anders. Ich denke daher, daß diese Zäsuren, diese Wendepunkte sich noch ganz gehörig abschleifen werden. Man wird den Wenderoman nicht mehr vermissen, und wenn er da sein sollte, nicht mehr als solchen lesen.

Viele, besonders der jüngeren Autoren, die vielleicht auch noch nicht soviel Vergangenheit haben wie Sie, schlagen eine ganz andere Richtung ein. Die sehen das nun vereinigte Berlin eher als eine Metropole an, oder sie schreiben etwas total anderes, das mit der Wende gar nichts zu tun hat. Wie würden Sie so eine Richtung bewerten?

Sicherlich findet die jüngere Generation andere, ihre Lebensumstände interessanter. Für diese Autoren ist bestimmt nicht mehr 1945 die große Zäsur, sondern vielleicht die Zeit, als Aids aufkam oder irgendwelche anderen Dinge, Drogen, Offenbarungen, die gewiß weltbewegender und schicksalhafter sind.

Sie haben gesagt, Sie haben eben ein neues Buch fertiggeschrieben. Liegt das dem Verlag schon vor? Können Sie davon schon jetzt etwas mehr verraten?

Das ist schwierig. Es hat bis jetzt nicht einmal einen ordentlichen Titel, nur einen Arbeitstitel. Wie gesagt, der Roman endet 1976, mit einem Todestag. Ein Kind stirbt 1976, und das ist das Ende dieses Buches.

Und der Schauplatz war wieder in der DDR?

Ja, das geschah in der DDR. Es ist auch ein ganz konkreter Schauplatz, nämlich das Grenzgebiet. So lautete auch der Arbeitstitel des Buches. Ich wollte ihn eigentlich mehr im allgemeinen Sinne verstehen, aber zu DDR-Zeiten war der Begriff festgelegt auf das Gebiet an der Grenze, direkt am Stacheldraht oder an der Mauer. Und dies wird durch die andere Geschichte in dem Roman, nur, sage ich mal, tangiert. Aber es wirkt auf eine andere Art und Weise in die Geschichte ein als bisher. Es geht einfach um eine Umwertung von existentiellen Bedingungen.

Kann man in diesen existentiellen Bedingungen deutlich lesen, daß man gerade in den DDR-Zeiten leidet?

Man kann deutlich lesen, daß man in den DDR-Zeiten leidet, ganz genau. Aber nicht DDR-Zeit ist das Wichtige oder Vordergründige.

Das Politische ist nicht so wichtig?

Es spielt immer mit hinein, aber in einem anderen Sinne. Das Kind leidet an einer Lungenkrankheit, und es braucht ganz dringend Sauerstoff. Wenn dann an der Grenze die Bäume umgeschlagen werden, dann ist nicht unbedingt die Mauer das Entscheidende, sondern vielmehr die Verschlechterung der Atemluft als Folge der Rodung. Die Mauer würde die Familie noch eher akzeptieren als die umgeschlagenen Bäume. Die Mauer existiert, und sie ist auch mit Mienen und Soldaten bestückt. Aber trotzdem spielt sich ein Schicksal ab, in dem Menschen plötzlich glücklich sind aus Gründen, die mit der Gesundung des Mädchens zu tun haben und nicht mit der Politik.

Wann denken Sie, daß das Buch herauskommt?

Wir nehmen uns noch etwas Zeit, weil ich noch einen Titel suchen muß. Ich habe den Roman gerade erst zur Lektüre an den Verlag gegeben, und auch meinen Bekannten. Wir überlegen noch, ob ich Ortsnamen, die für mich einen poetischen Klang haben, behalten kann, oder ob ich sie aus rechtlich-juristischen Gründen ändern soll.

Tauchen in dem Roman noch Motive aus „Vom Glanz der Elbe” auf?

Nein, überhaupt nicht, es hat mit Vom Glanz der Elbe gar nichts zu tun.

Wieso ist es Ihnen wieder wichtig, in die DDR-Zeiten zurückzugehen, statt sich zum Beispiel mit direkten Problemen der Nach-Wendezeit zu beschäftigen?

Also, ich habe zwei Dinge vorgehabt. Einmal das, was ich jetzt geschrieben habe, und zum anderen die Geschichte von Rainer, Annas Sohn in Vom Glanz der Elbe, der sich aufmacht, noch mehr Licht in die Vorgeschichte seiner Mutter zu bringen. Rainer fährt am Ende von Vom Glanz der Elbe nach Polen, um einen Film zu drehen.

Arbeiten Sie schon daran?

Nein, ich denke zur Zeit aber darüber nach. Das wäre meine andere Richtung und wäre auch kein sogenannter Nach-Wende-Roman, also 90er-Jahre-Roman gewesen, sondern hätte sich mit Vergangenheit beschäftigt. Und so ist es bei dem anderen auch.

Ist Erinnerungsarbeit für die Vergangenheit zu leisten nach wie vor ein sehr wichtiges Thema für Sie?

Ja. Ich verweile nicht in den 70er Jahren. Ich steige mit den Generationen in die Geschichte hinab. Auch wenn Rainer sich auf den Weg nach Polen macht, wird es um ein Geflecht zwischen vier Generationen gehen.

Sie haben ja ziemlich viele Romane geschrieben. Welches Ihrer Werke halten Sie für das gelungenste oder das für Sie persönlich wichtigste?

Das ist leicht zu beantworten. Das ist mein erstes Buch. Nicht Jette in Dresden, sondern Vorgeschichten oder schöne Gegend Probstein (1977), weil da alles angelegt ist. Dort stehen die Instrumente. Darauf kann ich immer zurückkommen. Ich hänge den dort angeschlagenen Tönen noch immer nach. Ich möchte immer wieder da hinhören, und deswegen ist dieses Buch für mich das wichtigste. Und vielleicht auch, weil ich damit angefangen habe, unbeschwert und unbefangen: ohne Etikett von einer literarischen Öffentlichkeit. Urteile können beflügeln oder verletzen. Auch Wohlmeinen kann manchmal schaden. Man ist versucht, darauf einzugehen, was aber oft falsch ist.

In „Jette in Dresden” haben Sie die Psyche der Kinder genau und rührend beschrieben. Man merkt dadurch, daß Sie ein Herz für Kinder haben. Der Titel selbst erinnert natürlich an Thomas Manns „Lotte in Weimar” (1939). Ist das eine bewußte Anspielung?

Sie haben den Titelanklang sofort verstanden. Ich habe es selber erst gar nicht bemerkt, aber andere natürlich. Das ist ein Titel, der vom Verlag vorgeschlagen wurde. Als ich dann später daran dachte, daß es ja Lotte in Weimar gibt, war ich schon ein bißchen erschrocken.

Welche Rolle soll ein deutscher Schriftsteller in deutsch-deutschen Konflikten spielen? Was kann man eigentlich als Schriftsteller tun, um zu einer wirklichen Einheit beizutragen? Trotz des Mauerfalls ist Deutschland ja nicht wirklich vereint, und die beiden Seiten werfen einander Unterschiedliches vor. Ich denke da zum Beispiel an die Beschwerden aus dem Westen über all die Finanzhilfen und die Klage des Ostens, der sich nicht wiedervereinigt fühlt, sondern vielmehr von den Siegermächten einverleibt.

Und beide haben recht.

Das stimmt, aber das hilft dem Prozeß nicht, zu einer Einheit zu kommen, zu einem brüderlichen Verhältnis in diesem Land. Sehen Sie eine Lösung für dieses Problem?

Ich weiß nicht genau, wie Sie sich ein brüderliches Verhältnis von einem Land zum anderen vorstellen. Man muß die Konflikte benennen, und jeder Mensch kann für sich irgend etwas finden, das ihm gefällt und das ihn stört, hier und da, in Leipzig und in Köln. Und es wird viel Wahres daran sein, aber auch viel Legende und viel persönlicher Frust, der mit den eigentlichen Einheitsproblemen überhaupt nichts zu tun hat. Das ist so mit jeder Meinung. Das wird das eine sein, was ja nicht gefährlich, nicht schlimm ist. Und es wird das andere geben. Zum Beispiel steht da drüben ein kleines Haus, das jemand gebaut hat, der aus dem Westen kommt. Am Anfang hatte er große Schwierigkeiten hier, durfte keine Musik machen, nichts im Garten verbrennen, wegen des Qualms. Mit mir ging es ihm nicht so, weil wir bald angefangen haben, über das Wetter und über die Busfahrpläne zu schimpfen. Jetzt kennen wir uns, jetzt sind wir Nachbarn, und jetzt ist alles gut, alles in Ordnung. Wir sind ja hier an der Nahtstelle, hier gegenüber ist gleich Westberlin. Auf der Straße funktioniert das, da wachsen wir schon zusammen. Schwieriger zeigt sich die Sache in der Politik. Die Stellung des einzelnen Menschen in der Gesellschaft, wie sich Arm und Reich abgrenzen, das wird Konfliktstoff bleiben. Das bewegt die Leute, das wird Thema der Zeitungen und Magazinsendungen sein. Mittlerweile kann man sich aber nicht mehr vordergründig auf dieses Ost-West-Problem konzentrieren. Es gibt neue, gesamtdeutsche Polarisationen und ganz andere Dinge, die in der Welt vor sich gehen.

Viele Schriftsteller haben sich darüber beklagt, daß sie sich zehn Jahre nach dem Mauerfall noch immer nicht als deutsche Schriftsteller fühlen. Autoren mit ostdeutscher Herkunft wollen sich oft nicht so bezeichnen lassen, weil für sie ihre spezifische Vergangenheit sehr wichtig ist. Fühlen Sie sich selber als deutsche Autorin?

Da bleibt mir gar nichts anderes übrig. Ich kann weder auswählen noch die Situation ändern. Die Lage ist so, wie sie ist. Ich bin hier und muß damit zurechtkommen. Ich kann nur versuchen, eine gewisse Haltung zu bewahren, bei aller Aufregung ringsum. Und in meiner Biographie, in der Geschichte, die ich durchlebt habe, auch darin, daß ich im Osten aufgewachsen bin, sehe ich hin und wieder auch einen gewissen Vorteil. Es ist meine Biographie.

Frau Schütz, ich bin gespannt auf Ihr neues Buch und bedanke mich für dieses interessante und aufschlußreiche Interview.

Das Gespräch führte Holly Liu (Vanderbilt University, Nashville)



Berliner LeseZeichen, Ausgabe 04/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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