Rezension von Henry Jonas



Das Theater war sein Element

Dagmar Walach:
Gustaf Gründgens. Aber ich habe nicht mein Gesicht
Eine deutsche Karriere.
Henschel Verlag, Berlin 1999, 256 S.
 

Die Staatsbibliothek Berlin hat den schriftlichen Nachlaß von Gustaf Gründgens aufgekauft und ist dabei die Verpflichtung eingegangen, des 100. Geburtstags des Künstlers am 22.12.1999 durch Ausstellung und Katalogbuch zu gedenken. Die Ausstellung hat in Berlin stattgefunden (9.12.1999-12. 2. 2000) und wird nun in Bad Godesberg (27. 2.-7. 5. 2000) und in Hamburg (31. 5.-15. 7. 2000) gezeigt. Das Katalogbuch ist bei Henschel erschienen.

Es ist gut ausgestattet, reich illustriert, enthält - geordnet nach Lebensstationen - Briefe und Notizen von der Hand Gründgens, Auszüge aus seinen Vorträgen und Artikeln, Dokumente, Reden über Gründgens sowie verbindende Anmerkungen und einen Essay der Herausgeberin. Natürlich schließt das Buch mit Übersichtsdaten zu Leben und Werk, Personenregister, Danksagung u. a.

Zu fragen ist, ob neue Dokumente unser Bild des Künstlers zu korrigieren Anlaß geben und ob das Buch als ganzes - sofern es den Anspruch erhebt, über die Ausstellung hinaus und unabhängig von ihr als selbständige Publikation zu wirken - dem Standard entspricht, den vorausgehende dokumentarische Biographien prominenter Theaterleute nicht zuletzt im Henschel Verlag selbst geschaffen haben. Ich neige in beiden Fällen dazu, mit nein zu antworten.

Auch zuvor ist Gründgens stets zu den hervorstechendsten Darstellern, zu den wichtigsten Regisseuren und zu den bedeutendsten Theaterleitern des Jahrhunderts gezählt worden. Längst ist seiner Intendanz an den Preußischen Staatstheatern in der Nazizeit eine ausgeglichene Beurteilung zuteil geworden. Eine deutsche Karriere? Natürlich hat es seiner Eitelkeit geschmeichelt, als man ihn antrug, das führende Theater Deutschlands zu leiten (1934-1944), natürlich hat er Titel wie Staatsrat oder Kultursenator gern in Anspruch genommen, und natürlich hat er objektiv dem faschistischen Regime als Aushängeschild gedient. Und doch gibt es deutliche Unterschiede, zum Beispiel zu Heinrich George. Daß er dem faschistischen Ideengut nachhaltig gehuldigt hat, war an seinem Spielplan nicht abzulesen (leider wird das im Buch nicht belegt), in profilierte Naziorganisationen ist er nicht eingetreten, von Propaganda- und Durchhaltefilmen hat er sich ferngehalten und einigen politisch oder rassisch Verfolgten wie Ernst Busch oder Erich Zacharias-Langhans, die der Nazijustiz in die Hände gefallen waren, hat er beigestanden (leider werden auch dazu keine Dokumente unterbreitet). Wohl gefühlt hat er sich in seiner Haut gewiß nicht, wie Ausbruchsversuche belegen. Ob er es tatsächlich vermochte, das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt als „Insel” zu gestalten, wie man rühmt, daß es Heinz Hilpert mit dem Deutschen Theater gelungen sei, steht mangels Unterlagen dahin, ein Tummelplatz von Nazis aber war es gewiß nicht.

Über die Umstände der Verhaftung und Internierung nach dem Kriege liegen offenbar weder Berichte noch Dokumente vor. Den Sowjets, die ihn in Verwahrung hatten, schien er aber nichts nachzutragen, denn er beeilte sich, „den russischen Herren gefällig sein zu können, die mir die Rückkehr ins bürgerliche Heldenleben so sehr erleichtert haben”, sobald er am Deutschen Theater wieder spielen und inszenieren durfte. Das Berliner Publikum nahm ihn wieder herzlich auf, die Chance jedoch, hier ein Theater wieder als Intendant anvertraut zu bekommen, schätzte er wohl nicht hoch ein. So wurde das Angebot, Generalintendant in seiner Vaterstadt Düsseldorf zu werden, interessant (1947-1955). Kaum angekommen, mußte er sich freilich noch einmal einem Entnazifizierungsverfahren für die britische Zone unterwerfen, in dessen Ergebnis ihm zu seinem Unmut Beschränkungen auferlegt wurden. (Noch im August 1949 wurde in Edinburgh gegen ihn demonstriert, als Düsseldorf dort mit dem „Faust” gastierte.) Er stürzte sich in die Arbeit, aber bald begann die Unlust am Düsseldorfer Geschäft, denn die Arbeitsbedingungen empfand er als schwierig, die Bürokratie war schwerfällig, das Entgegenkommen gering und die Nörgelsucht unmäßig (erstes Rücktrittsgesuch Februar 1949). Da hätte eine Anfrage des Westberliner Oberbürgermeisters Ernst Reuter Anfang 1950, ob er an einer Bühne in Berlin interessiert sei, willkommen sein müssen. Es kam auch zu zwei Gesprächen, aber Gründgens sagte schließlich ab: „Mit einem Wort: Ich traue mich nicht.” Ein Düsseldorfer Gastspiel mit Eliots „Cocktail Party” zu den Berliner Festspielen wurde zum Fiasko - und damit begann eine Berlin-Phobie, die dazu führte, daß Gründgens alle Fäden durchtrennte und u. a. eine „Don Giovanni”-Inszenierung in Berlin absagte. So kam es schließlich zur Intendanz in Hamburg (1955-1963).

Sicher hilft das unterbreitete Material, die Logik dieser Entwicklung nachvollziehbar zu machen, leider fehlt aber alles, was uns ein Bild vermitteln könnte, wie Gründgens die Leitung seiner Theater handhabte: welchem Programm er folgte, auf welche Kräfte er sich stützte (oder fällte er einsame Entscheidungen?), ob ökonomische Gesichtspunkte berücksichtigt werden mußten, wie die Ergebnisse aussahen (also der konkrete Spielplan - der Anhang enthält nämlich nur die Inszenierungen und Rollen von Gründgens) und wie die Resonanz beim Publikum war (also die Auslastung der Häuser). Die Antrittsreden in Düsseldorf und Hamburg sind vorhanden, aber sie handeln taktisch vor allem vom schweren Abschied am vorhergehenden Arbeitsort, sie entwickeln noch kein Programm.

Und natürlich möchte man gern wissen: Wie haben die Inszenierungen des Regisseurs Gründgens ausgesehen, wie sind sie entstanden, welche konzeptionellen und methodischen Schritte folgten aufeinander? Wie hat sich seine Sicht auf Werke verändert, die er im Laufe seines Lebens mehrmals in Szene gesetzt hat? Welche Gesichtspunkte waren für die Wahl der Stücke entscheidend? Wie ist er Brechts „Johanna” begegnet, wie hat er sich mit Brechts Gesellschaftsverständnis auseinandergesetzt - war es eine produktive Reibung?

Zu „Torquato Tasso” heißt es einmal: „Mir lag daran zu zeigen, daß der Tasso nichts mit dem Carlos zu tun hat und daß es eine Tragödie des Geistes ist, die in strengen Maßen und Formen vor sich geht”, das ist wohl zu allgemein. Aus der Debatte um den Bühnenverein wissen wir, daß er sich der szenischen Verwirklichung des Dichterwortes verpflichtet fühlte, der werkgetreuen Interpretation, die vom überlieferten Text ausgeht, daß ihm Willkür, freizügige Bearbeitungen, Stilexperimente, das heraufdämmernde Regietheater mit seiner rücksichtslosen Betonung der Gegenwart und der Subjektivität des Regisseurs suspekt waren. Im Anhang (Daten zu Leben und Werk) werden viele Reden und Artikel genannt, die im Buch auch nicht auszugsweise zitiert werden - sind sie verloren? Ist das Erbe so schmal? Gründgens war natürlich kein Wissenschaftler, aber wohl ein intellektueller Schauspieler und ein engagierter Regisseur. Schwer zu glauben und sehr enttäuschend, daß nicht mehr an theoretischen Vorstellungen und konzeptionellem Material überliefert sein soll.

Solche Fragen gelten natürlich auch dem Darsteller. Es fällt auf, daß die ausgewählten Rezensionen wesentlich auf Beurteilungen reduziert sind - wo sind die Rollenbeschreibungen, um eine lebendige Vorstellung zu vermitteln? Die Darstellung des Mephisto wird stets als Gipfelwerk beschrieben - wie hat sie sich entwickelt, in den verschiedenen Inszenierungen verändert, wie sind veränderten Zeitläuften entsprechend andere Akzente gesetzt worden? Wie hat Gründgens Hamlet gespielt und Prospero, Orest und Franz Moor? Daß Herbert Iherig und Friedrich Luft trotz höchsten Lobs stets auch Einwände hatten, ist bekannt. Aber hier wird auch der Düsseldorfer Kritiker Jakob Stöcker abgedruckt, der 1948 schrieb: „Gustaf Gründgens ... ist ein souveräner Komödiant, hat Charme, das Erbteil seines rheinischen Blutes, und er hat gelegentlich auch jene Hintergründigkeit, die den Vordergründigen fast immer fehlt. Da er mehr Intellekt als Herz und Gefühl hat, kann er kein echter ,Liebhaber` sein, auch sein Ödipus zeigt dies Gefühlsmanko. Gründgens kann keine Helden spielen.” Hat Stöcker recht, ist er nicht widerlegbar?

Wenn das durch andere Rezensenten nicht möglich wird, bleibt es Aufgabe eines umfassenden Essays. Hier aber bleibt Dagmar Walach, die schon die Anmerkungen zu den Dokumenten viel zu knapp gefaßt hat, einiges schuldig. Sie versteht es nicht, die Lücken zu füllen, die das ausgebreitete Material offen läßt. Sie reiht Zitate und Behauptungen aneinander, schaut sich kaum um in der übrigen Theaterlandschaft und bleibt die Beweisführung schuldig. Wieso war Gründgens in den fünfziger Jahren „Garant für den Bestand des deutschsprachigen Theaters”? Zu dieser Zeit gab es ja auch das Deutsche Theater Berlin, die Scala in Wien, das Züricher Schauspielhaus und das Berliner Ensemble zum Beispiel, und an „Klarheit und geistiger Ordnung” mangelte es nicht. Und was bitte ist Gründgens' „Exemplarität”, und wieso „wuchs sie ihm aus jeder Epoche zu”? Und wie macht man das: „Weltliteratur stets als Nationalliteratur zu interpretieren”, was angeblich Faustpfand seines Künstlertums gewesen sei? „Spürsinn für zeitgeschichtliche und gesellschaftliche Relevanz von Theaterfiguren” rühmt die Autorin Gründgens nach, Theater sei von ihm gehandhabt worden „als Brennglas von Geschichte und Geschichtsbewußtsein” - das eben hätte man so gern begründet und beschrieben statt nur behauptet gesehen.

Hat Gründgens tatsächlich „darstellerische Meisterschaft, ästhetische Radikalität und theatralische Wahrhaftigkeit dauerhaft in ihr Recht eingesetzt”? Drängte nicht schon bald eine neue Generation in die Regiestühle, für die der Literaturzentrismus nur noch „Opas Theater” und Gründgens „ein professoraler Herr mit tief spießigen Zügen” war (Zadek)? Nein, die Entwicklung ist über diese Epoche rasch hinweggeschritten, aber gerade deshalb ist es so wichtig, so viel davon zu bewahren wie möglich. Die von der Staatsbibliothek erworbene Hinterlassenschaft von Gründgens soll siebzig laufende Meter Quellenmaterial umfassen. Ist das nicht genug für ein Buch von der Art, wie es der Henschel Verlag so vorzüglich gemeinsam mit der Akademie der Künste Otto Brahm, Max Reinhardt, Erwin Piscator, Leopold Jessner, Bertolt Brecht, Berthold Viertel, Erich Engel und Walter Felsenstein gewidmet hat? Aber auch die Bildbiographien und Arbeitsberichte von Wolfgang Langhoff, Wolfgang Heinz, Benno Besson, Heinrich Kilger, Ernst Busch, Joachim Herz und Harry Kupfer geben doch umfassender, beredeter und anschaulicher Auskunft über künstlerische Arbeit, als das hier der Fall ist.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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