Rezension von Marianne Gerber


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Zeugen des Jahrhunderts

 

Friedrich Schorlemmer (Hrsg.):
Lebenswege. Band 2

Mitteldeutscher Verlag, Halle 1999, 407 S.

 

„In der Abendreihe ,Lebenswege` der Evangelischen Akademie in der Lutherstadt Wittenberg wird monatlich einmal der Versuch unternommen, mit ganz unterschiedlichen, bekannten oder weniger bekannten Gästen über ihren Lebensweg, ihr Lebenswerk und ihre Lebensphilosophie ins Gespräch zu kommen”, schreibt Akademiedirektor Friedrich Schorlemmer in seinem Vorwort. In Band 2 werden zwanzig Gesprächsprotokolle aus den Jahren 1993 bis 1999 vorgelegt.

Friedrich Schorlemmer, der mit erstaunlich vielen seiner Gäste befreundet ist, befragte Politiker, Schriftsteller, Wissenschaftler und Wirtschaftsexperten sowie einen Kabarettisten. Auch wenn die Gespräche nicht immer vollendet redigiert sind, lohnt sich die Lektüre für jeden, der an den Problemen dieses ausgehenden Jahrhunderts interessiert ist. Fragen zu der parlamentarischen Demokratie und der Außenpolitik der NATO, zu der Strategie der Wirtschaftskapitäne und dem Management der deutschen Einheit, zu der Geheimdiplomatie zwischen den beiden deutschen Staaten und der geistigen Verfassung der PDS werden aufgeworfen und mit Kompetenz diskutiert. Persönlichkeiten, die man zu kennen meint - wie Rita Süssmuth, Hildegard Hamm-Brücher, Egon Bahr, Lothar de Maizière oder Richard von Weizsäcker -, geben Gedanken, Erfahrungen, biographische Brüche und Impulse durch Weggefährten preis, die in gewöhnlichen Talk-Shows wenig zur Sprache kommen. Friedrich Schorlemmer gelingt es, zentrale Bereiche ihrer Persönlichkeiten aufzuschließen, sie zu sehr persönlichen Bekenntnissen, aber auch zu hellsichtigen Urteilen über das Zeitgeschehen zu bewegen.

Wer wußte von der gemeinsamen Schulzeit eines Wolfgang Leonhardt mit Markus und Konrad Wolf, Peter Florin und Werner Eberlein in Moskau, von der Gründung des Komitees Cap Anamur im Zusammenhang mit einem Besuch Robert Neudecks bei Sartre und Böll, von Hildegard Hamm-Brüchers Freundschaft mit den Studenten der „Weißen Rose”, deren Tod für sie geistiges Vermächtnis blieb? Der österreichische Kabarettist Werner Schneyder spricht von der inneren Verpflichtung, um der jungen Leute willen nicht zum politischen Zyniker zu werden, Rechtsanwalt Wolfgang Vogel, der sich als gläubiger Katholik outet, deutet die Gefährdung und seelische Belastung an, die mit seiner Vertrauensstellung in Ost und West verbunden war. Christine und Hans Koschnick erzählen von ihrer Prägung durch widerständige Elternhäuser und den Aufbruch in der Nachkriegszeit, die beide in die Gewerkschaftsarbeit führte und Hans Koschnick schließlich für die EU-Friedensmission in Mostar prädestinierte. Neben den (ost-)deutschen Schriststellern Helga Schubert, Erich Loest und Werner Heiduczek kommen in Deutschland lebende Emigranten wie der tschechische Dissident Ota Filip und der Iraner SAID zu Wort, der von seiner Liebe zu den großen europäischen Denkern und dem Verrat der europäischen Politik an ihnen spricht.

Mich persönlich haben vor allem drei Beiträge beunruhigt und mir wichtige Einsichten vermittelt: Der langjährige stellvertretende sowjetische Botschafter in der Bundesrepublik, Igor Maximytschew, analysiert die mentale Veränderung in der russischen Bevölkerung seit dem Fall der Mauer. Er unterstreicht die große Offenheit Rußlands 1991, seine grenzenlose Bereitschaft, mit dem Westen zusammengehen zu wollen, und konstatiert heute in Rußland eine Umkehr zu antiwestlicher Einstellung. Durch die Osterweiterung der NATO, die darauf abziele, Rußland auszugrenzen, sei die Perspektive für Rußland, ein europäisch-demokratisches Land zu werden, verspielt worden.

Hermann Scheer, der Präsident von EUROSOLAR, äußert sich kritisch zum deutschen Parlamentarismus, der sich negativ von dem der USA unterscheide. Die Abgeordneten der regierenden Parteien ließen sich zum Vollzugsorgan der jeweiligen Regierung machen. Den Widerstand der Strom-, Öl- und Gaskonzerne sowie der Atomlobby gegen die Nutzung erneuerbarer Energien erklärt er damit, daß das heutige Energiesystem der wirtschaftlich größte, umsatzstärkste und politisch einflußreichste Markt der Welt sei, während Sonne, Wind, Wasserkraft ... nicht wie bisher kommerzialisierbar seien.

Der ehemalige Aufsichtsratsvorsitzende der Deutschen Bahn AG, Heinz Dürr, erfolgreicher Stuttgarter Unternehmer, Vorsitzender der Stiftung „Lesen” und langjähriger Freund des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard, spricht von der Trias Kultur, Wirtschaft und Politik, die in Deutschland auseinanderzufallen drohe. Er beklagt die aus den USA kommende „Philosophie” der kurzfristigen Gewinnorientierung und plädiert für ein wirtschaftliches und politisches Denken in größeren Zeiträumen. „Die Wahlperioden sind mit Sicherheit zu kurz ... Wir müssen den Leuten sagen, daß eine Reform vielleicht zehn Jahre dauern kann”, resümiert er. Was in der Gesellschaft vor allem fehle, sei Gemeinsinn und eine Ethik der Verantwortung.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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