Rezension von Helmut Eikermann



Kurt Weill zum 100. Geburtstag

Jens Rosteck: Zwei auf einer Insel
Lotte Lenya und Kurt Weill.
Propyläen Verlag, Berlin 1999, 400 S.
 

David Farneth mit Elmar Juchem und Dave Stein:
Kurt Weill
Ein Leben in Bildern und Dokumenten.
Aus dem Englischen von Elmar Juchem.
Ullstein Verlag, Berlin 2000, 320 S.
 

In Europa ist die Bedeutung des vor einhundert Jahren im „Bayreuth Norddeutschlands” (Richard Wagner), in Dessau nämlich, geborenen Komponisten Kurt Weill (1900-1950) noch immer vornehmlich auf die „Dreigroschenoper” und die enge Zusammenarbeit mit Brecht reduziert, in den USA eher auf seine späteren Film- und Musicalerfolge. Wie weit beide Betrachtungsweisen Weills Gesamtschaffen unterschätzen, belegen die beiden aus Anlaß des Geburtstages im Hause Ullstein-Econ-List erschienenen Publikationen mit unterschiedlicher Qualität. Im weiteren Sinne darf man auch John Fuegis jetzt als dickleibiges Propyläen-Taschenbuch vorliegende und heftig umstrittene Biographie Brecht & Co. dazu zählen, die ausführlich (und viel zu indiskret und mit Vorurteilen belastet, wie militante Brecht-Adepten behaupten) auf die Entstehungs- und Tantiemen-Geschichte der „Dreigroschenoper” und das Beziehungsgeflecht Weill-Brecht-Lenya eingeht.

Während der Musikwissenschaftler Rosteck eine romanartige Lebensbeschreibung der ungleichen Ehepartner Weill-Lenya (oder Lenia/Lenja, wie Karoline Blamauers Künstlername ursprünglich lautete) geschrieben hat, legt David Farneth, Direktor des expandierenden Weill-Lenya Research Centers in New York, Archivar der Kurt Weill Edition und Herausgeber des Kurt Weill Newsletter, einen großformatigen Prachtband vor, den man nicht anders als opulent bezeichnen kann, und der gleichzeitig die Ausstellung Musical Stages: Kurt Weill und sein Jahrhundert begleitet.

Farneth hat über 900 zum Teil unbekannte Fotos, Briefe und zahlreiche Dokumente zusammengetragen, die - in hervorragender Druckqualität - einen umfassenden Überblick über Weills Leben und Werk bieten.

Das Buch, für das man einen bequemen Sitzplatz, viel Zeit und einen ausreichend großen Tisch benötigt, ist eine liebevolle Hommage an den Komponisten, der Deutschland 1933 verlassen mußte, und der sich wie kein anderer emigrierter deutscher Künstler in den USA eine zweite und gleichermaßen bedeutende Karriere erarbeitete. In sieben jeweils mit einer exakten Zeittafel und parallelen Anmerkungen zur zeitgenössischen Kultur und Politik versehenen Kapiteln ist Weills Weg von der Geburt am 2. März 1900 in einer der ältesten jüdischen Familien in Deutschland (und in einem Haus, das 1959 abgerissen wurde!) bis zu den Nachrufen nach seinem frühen Tod am 3. April 1950 in New York und einem letzten Blick in sein Arbeitszimmer dokumentiert. Zahlreiche Partiturbeispiele, die Übersetzungen der fremdsprachigen Dokumente, ausführliche Anmerkungen zur Edition, zum Archivbestand und zu den Musikurheberrechten sowie ein Literaturnachweis und ein Weill-Werkregister ergänzen den Band.

Gegen soviel Qualität und geballte Wissenschaftlichkeit muß Rostecks Arbeit naturgemäß abfallen, zumal der 1962 geborene Musikwissenschaftler (und Pianist und Interpret) kein „gelernter Autor” ist, ja nicht einmal den korrekten Akkusativ der Berufsbezeichnung Autor kennt und sich gelegentlich in den eigenen Satz- und Gedankenkonstruktionen verfängt. Auch er hat einen Sinn fürs Opulente, für ausschmückende Beifügungen nämlich, die seinem Anliegen und dem Text eher schaden. Hat man sich in die überbordende Metaphorik und die etwas wirre Chronologie des Prologs eingelesen, fallen einem nur noch gelegentlich ungenaue Formulierungen (Anekdoten werden nicht beschrieben, sondern erzählt), unmotivierte Sprünge in der Zeitform und umständliche Beschreibungen auf, die den Fluß des Ganzen hemmen. Lenyas Weg von Georg Kaisers Haus am Grünheider Peetzsee zum Bahnhof Fangschleuse, den Rosteck ebenso aufwendig wie ungenau schildert, hat er selber offensichtlich nie zurückgelegt. Weshalb ausgerechnet die Pointe des unvermittelt eingefügten Klops-Liedes unterschlagen wird, bleibt unklar. Und daß Karoline Blamauer „im Schatten der Geschichte zur Welt” kam, ist nur eins der unglücklich gewählten Sprachklischees. „Barrieren fallen, und ungefilterte Empfindungen flattern wie Brieftauben direkt ins Herz des fernen Geliebten”, heißt es beispielsweise auf Seite 200, und drei Absätze weiter: „Ein Großteil der zum Ausdruck gebrachten Gefühle geht sicherlich auf das Konto der extrem angespannten internationalen Lage.”

Rostecks Schwächen dominieren hauptsächlich in den biographischen Details; nähert er sich seinem eigenen Fachgebiet, so weiß er sich durchaus treffend auszudrücken, etwa wenn er in kurzen, prägnanten Sätzen und mit viel Sachverstand Weills kompositorisches Schaffen charakterisiert oder die Bühnenwirkung der Weillschen Werke schildert.

Der Rezensent will nicht ungerecht sein: Insgesamt liefert auch Rosteck eine durchaus lesenswerte, mit viel Lokal- und Zeitkolorit angereicherte Biographie der beiden großen und so ungleichen Künstler und eine zutreffende Darstellung ihrer komplizierten Beziehung zueinander. Lotte Lenya, am 18. Oktober 1898 in Wien geboren, überlebte ihren Mann, mit dem sie zweimal verheiratet und dessen kongeniale Interpretin sie bis ins hohe Alter war, um mehr als dreißig Jahre. Sie starb am 27. November 1981 in New York. In beiden Büchern wird ausgiebig aus Weills, und bei Rosteck auch aus Lenyas Briefen zitiert. Das betont die Authentizität, die ja auch Rosteck anstrebt. Dennoch sind sein Anmerkungsapparat, noch mehr aber die Auswahldiskographie ein wenig dürftig geraten. Farneth hat leider gänzlich auf eine Diskographie verzichtet. Schade.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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