Rezension von Gerhard Keiderling


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Deutschlandpolitik war Chefsache

 

Heinrich Potthoff: Im Schatten der Mauer
Deutschlandpolitik 1961 bis 1990.

Propyläen Verlag, Berlin 1999, 441 S.

 

Gegenstand des Buches ist die „Deutschlandpolitik, wie sie von der sozial-liberalen Koalition initiiert und unter Helmut Kohl fortgeführt wurde”. Sein Verfasser ist stellvertretender Vorsitzender der Historischen Kommission der SPD. Mit seinen unlängst erschienenen Büchern Die Koalition der Vernunft. Deutschlandpolitik in den 80er Jahren (1995) und Bonn und Ost-Berlin 1969-1982. Dialog auf höchster Ebene (1997) ist er prädestiniert für eine Gesamtdarstellung. Die Hauptpersonen, ihre Denk- und Handlungsweisen und die Ergebnisse sind hinlänglich bekannt, selbst wichtige Schriftstücke bereits publiziert. Nichtsdestoweniger birgt diese jüngste Geschichte noch immer eine Dramatik in sich, der sich der Leser nicht entziehen kann. Potthoff zeichnet das deutsch-deutsche Verhältnis zwischen Mauerbau und Mauerfall in seinem ebenso spannenden wie spannungsreichen Wechselspiel zwischen Bonn und Ost-Berlin nach. Er hat dafür eine sachliche Form der Schilderung gewählt, er legt die Fakten dar, analysiert, zieht Bilanz und entwirrt die verschlungenen Wege der Politik, so daß im ganzen wie im Detail ein eindrucksvolles Bild von 30 Jahren Beziehungen zwischen der BRD und der DDR entsteht. Dabei stützt sich der Verfasser auf umfangreiches Material aus Archiven in Bonn und Ost-Berlin, aus dem SPD-Archiv sowie aus Privatbesitz (z. B. Helmut Schmidt, Hans-Jochen Vogel, Greta Wehner oder Johannes Rau). Expressis verbis verweist er auf „eine Schieflage”, sie ergibt sich einerseits „durch die einseitige Verfügbarkeit der DDR-Akten” und andererseits „aus einer selektiven Verwertung von Westakten, die entweder nur den Akteuren selbst oder wenigen Ausgewählten zugänglich waren”, was heißen soll, daß über diese Periode das letzte Wort des Historikers noch nicht gesprochen ist.

Die Darstellung setzt mit dem 13. August 1961 ein, der nicht nur den Menschen, sondern auch den Politikern in Ost und West einen tiefen Schock versetzte. Dieser Tag und seine Folgen gaben den entscheidenden Anstoß, neue Wege im Umgang mit dem Osten zu suchen. Die Mauer bewirkte einen „Gezeitenwechsel in der Deutschlandpolitik” des Westens, der langfristig eine Wirkung zeitigte. Während sich die Alliierten längst auf den Status quo eingestellt hatten, ging in der BRD der Streit um Anerkennung der DDR, in welcher Form auch immer, weiter. Diese hitzige Auseinandersetzung unter den Kanzlern Adenauer und Erhard nur streifend, wendet sich Potthoff schnell seinem Grundthema zu: Willy Brandts Konzeption des „Wandels durch Annäherung” als eigentlichem „Schlüssel zur gesamten Ostpolitik”, die in der sozial-liberalen Koalition von 1969 bis 1982 zur Grundlage der Deutschlandpolitik wurde. Die CDU/FDP-Regierung fuhr auf den eingefahrenen Wegen weiter. Sie übernahm auch Formen dieser Politik, wie den „Polittourismus”, vertrauliche Absprachen und die geheimen Kanäle zur SED-Führung. Es war Bundeskanzler Kohl, der am 24. Januar 1983 die Initiative zu einem Telefongespräch mit Honecker ergriff.

Die Konzentration auf die deutschlandpolitische Kontinuität von Brandt bis Kohl verstellt oft den Blick auf größere Zusammenhänge. Wie man die deutschen Dinge in den westlichen Hauptstädten sah, welche Befürchtungen und Wendungen es in Moskau gab und wie die SED-Führung in praxi reagierte, steht am Rande. Zwangsläufig erscheint bei dieser Sicht die DDR mehr als Objekt im deutsch-deutschen Bilateralismus.

In welchem Maße die BRD ihre Deutschlandpolitik und die DDR ihre Westpolitik als eine Geheimpolitik betrieben, zeigte sich im Handels- und Wirtschaftsbereich. Dem zunehmenden Bedürfnis der wirtschaftlich maroden DDR nach einer Kommerzialisierung der beiderseitigen Beziehungen wurde in den 80er Jahren weitgehend entsprochen. Angefangen hatte es im Dezember 1962 mit einem geheimen „Häftlingsfreikauf”. Eingefädelt von Axel Springer, wurden 20 Häftlinge für drei Waggons Kalidünger von der DDR freigelassen. Daraus entwickelte sich ein regelrechter „Menschenhandel”. „Von 1963 bis 1989 wurden insgesamt beinahe 34 000 politische Gefangene und wegen versuchter ,Republikflucht` eingesperrte Menschen ,freigekauft`. Es war ein Geschäft mit Menschenschicksalen, bei dem in der Art eines mittelalterlichen Lösegeldes seit 1963 ein Preis in harter DM gezahlt wurde.” Zwischen 1964 und 1990 nahm das SED-Regime insgesamt 3,436 Milliarden DM ein. Es kassierte auch auf anderen Gebieten, wie z.B. im Transitverkehr.

Unter dem übergreifenden Aspekt der Machtstrukturen und des Sicherheitsinteresses schlußfolgert Potthoff: „Deutschlandpolitik, obwohl doch für die Menschen im geteilten Land gedacht, war vor allem gouvernemental-etatistisch angelegt.” Befördert wurde diese Entwicklung dadurch, daß Deutschlandpolitik „vor allem Chefsache” war. In Bonn liefen alle Fäden im Kanzleramt zusammen; „in Ost-Berlin hielten Walter Ulbricht und Erich Honecker das Heft in der Hand”.

In der langen Reihe schon vorliegender Dokumentationen und Analysen nimmt dieses Buch einen wichtigen Platz ein.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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