Rezension von Gerhard Keiderling


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Berlin-Berliner Beziehungen

 

Gerhard Kunze: Grenzerfahrungen
Kontakte und Verhandlungen zwischen dem Land Berlin
und der DDR 1949-1989.

Akademie Verlag, Berlin 1999, 502 S.

 

Ein amtliches Verhältnis zwischen dem Land Berlin (West) und der DDR ist erst nach 1961 gewachsen, schrittweise und mühevoll, immer wieder von Rückschlägen begleitet. In dem Jahrzehnt davor gab es Nichtbeziehungen, sieht man von einigen fachlich-technischen Kontakten ab, die für das normale Funktionieren der Doppelstadt lebenswichtig waren. Dieser Zustand ergab sich aus einer rigiden Nichtanerkennungspolitik gegenüber der DDR, denn der Senat „konnte und wollte nicht”. Erst der Mauerbau von 1961 brachte die erstarrten Fronten in Bewegung. Hier setzt die Untersuchung ein, die in zwei Komplexen die Passierscheinregelungen der Jahre 1961 bis 1969 und die auf dem Vierseitigen Abkommen über Westberlin von 1971 fußende Vertragspolitik bis 1989 beinhaltet. Der Autor Gerhard Kunze war als Mitarbeiter in der Senatskanzlei an der ersten Passierscheinvereinbarung vom 17. Dezember 1963 beteiligt und als Senatsrat von 1972 bis 1989 „Besuchsbeauftragter des Senats”. Seine Insider-Kenntnisse verleihen dem ausgezeichnet recherchierten Buch einen besonderen Reiz. Im Zentralen Parteiarchiv der SED und im Archiv ihrer Berliner Parteiorganisation sowie in den Aktenbeständen des früheren DDR-Außenministeriums, die im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes noch immer unter Verschluß gehalten werden, hat Kunze alle einschlägigen Unterlagen ausgewertet und sie durch Materialien des Senats und des Bundesaußenministeriums ergänzt. Leider fehlt ein Nachweis aller benutzten archivalischen Quellen sowie der Literatur, wie er für Untersuchungen dieses Genres selbstverständlich sein müßte.

Der erste Hauptteil ist den Passierscheinregelungen zwischen 1961 und 1969 gewidmet. Nach der Grenzschließung am 13. August 1961 wollte die DDR Westberlinern das Betreten Ostberlins nur mit Aufenthaltsgenehmigungen erlauben, die in DDR-Büros in Westberlin ausgegeben werden sollten. Der Senat duldete keine DDR-Hoheitsgewalt in seiner Stadt und ließ am 26. August 1961 die Büros in den S-Bahnhöfen Zoo und Westkreuz schließen. Von nun an war Westberlinern, im Gegensatz zu Westdeutschen und Bürgern anderer westlicher Staaten, für längere Zeit ein Besuch in Ostberlin und in der DDR unmöglich geworden. Kunze zeigt das mühselige Ringen des Senats um Passierscheine unter dem Dach der Kirche, des Roten Kreuzes, der Treuhandstelle für innerdeutschen Handel oder anderer Institutionen. Indem er sich auf diese Kontaktebenen und auf Sondierungen in Ostberlin beschränkt, bleibt das Dilemma der Westberliner Führung („kleine Schritte” der SPD versus „Immobilismus” der CDU) außer Betracht. Erst der schwere Schritt von „Die Mauer muß weg” zu „Mit der Mauer leben” ermöglichte es ihr, die Grundsatzentscheidungen behutsamer zu treffen. Die Rolle, die dabei Innensenator Heinrich Albertz spielte, wird kaum angesprochen. Wer mehr darüber erfahren möchte, sollte in der vortrefflichen Arbeit des US-Historikers Kurt L. Shell Bedrohung und Bewährung (1965) nachschlagen, die im vorliegenden Buch leider keine Berücksichtigung findet.

Solange Brandts und Bahrs „Wandel durch Annäherung” seine schärfsten Gegner in Bonn fand,konnte sich Ulbricht den Zeitpunkt für ein neues Angebot aussuchen: die Weihnachtszeit 1963, als in der Westberliner Bevölkerung wie schon im Vorjahr das Verlangen nach Verwandtenbesuchen im Osten sprunghaft zunahm. Wie es zu den Verhandlungen kam, welche Intentionen beide Seiten verfolgten und was sie davon in die Vereinbarung vom 17.Dezember 1963 einzubringen vermochten, schildert Kunze anhand der Akten und eigener Erinnerungen sehr detailliert. Mit dem Kompromiß - Ausgabe von Passierscheinen in zwölf Büros in Westberlin durch DDR- „Postangestellte” (in Wahrheit MfS-Mitarbeiter), doch keine DDR-Anerkennung und auch keine Behandlung Westberlins als „selbständige politische Einheit” - konnten beide Seiten vorerst zufrieden sein. Zwischen 19. Dezember 1963 und 5.Januar 1964 fanden insgesamt 1,2 Millionen Besuche von Westberlinern in Ostberlin statt, wobei es zu Begegnungen von insgesamt 5 Millionen Menschen - eingeschlossen die rund 500 000 DDR-Bürger, die in dieser Zeit extra nach Ostberlin reisten - kam. Das war in der Zeit des Kalten Krieges ein großartiger Triumph der Humanität und der Entspannung, der Hoffnung machte.

Bis Oktober 1966 folgten noch vier Passierscheinvereinbarungen. Dann machte die DDR das „Loch in der Mauer” wieder zu. Sie wollte den Balanceakt mit der Salvatorischen Klausel (Nicht-Einigung über Bezeichnungen), der ihr politisch nichts einbrachte, nicht länger hinnehmen und verlangte „normale Beziehungen” auf dem Boden der „Anerkennung der Realitäten”. Verantwortlich für das Ende der Passierscheinpolitik war der Wandel der SED-Deutschlandpolitik nach der Bildung der Großen Koalition in Bonn am 1. Dezember 1966. Die politischen und atmosphärischen Veränderungen in den Verhandlungen beschreibt Kunze anschaulich und vermerkt, daß der Wechsel der DDR-Chefunterhändler vom verständnisvollen Erich Wendt, der 1965 verstarb, zum doktrinären Michael Kohl auch das Mikroklima beeinträchtigte. Von den Passierscheinvereinbarungen, die Westberlinern insgesamt 5,4 Millionen Besuche in Ostberlin verschafft hatten, war am Ende nur eine „Härtestelle für dringende Familienangelegenheiten” übriggeblieben.

Nach einer durch erneute krisenhafte Entwicklungen um Berlin gekennzeichneten Phase leitete das Vierseitige Abkommen vom 3. September 1971 endlich eine lange Periode von Verhandlungen und Vereinbarungen ein. Mit der Unterschrift der Sowjetunion unter das Abkommen waren die Verhandlungsgegenstände klar bestimmt und Auslegungs- und Behinderungsversuchen seitens der DDR Grenzen gesetzt. Dennoch verblieben die Beziehungen zwischen Westberlin und der DDR im Auf und Ab der Entspannungspolitik in den 70er und 80er Jahren. Die politischen Rahmenbedingungen, insbesondere die Rückwirkungen des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Staaten, wie auch Außeneinflüsse finden aufmerksame Betrachtung. Die sowjetische Einflußnahme auf Ostberlin kann quellenmäßig gut nachgewiesen werden. Wie stark die Einwirkung der drei Alliierten, die in den Status- und anderen grundlegenden Fragen Westberlins das letzte Wort hatten, auf Regierungs- und Botschafterebene sowie über die Alliierte Kommandantur und ihre Verbindungsoffiziere im Rathaus Schöneberg jeweils gewesen ist, kann der Darstellung nur vage entnommen werden.

Kunze unterscheidet zwei Abschnitte der Verhandlungsperiode 1972-1989. Der erste bis 1979 war durch die Bemühungen beider Seiten geprägt, „die Grauzonen des Vier-Mächte-Abkommens auszuloten und seine Bestimmungen entsprechend den eigenen Vorstellungen zu interpretieren und zu praktizieren”. Das „Prüfen der Belastbarkeit des Vierseitigen Abkommens” (Klaus Schütz) führte wiederholt zu Unterbrechungen der Verhandlungen, zu Störungen des Transitverkehrs und zu krisenhaften Situationen. Der zweite Abschnitt nach 1980 zeichnete sich durch Intensivierung, Versachlichung und Konstruktivität des beiderseitigen Verhältnisses aus, trotz oder gerade wegen der Verschlechterung der internationalen Lage zu Beginn der achtziger Jahre. Herausragendes Ereignis war der erstmalige Besuch eines Regierenden Bürgermeisters (Richard v. Weizsäcker) in Ostberlin im September 1983. In einem gesonderten Kapitel werden die vielfältigen Kontakte zwischen Westberliner Parteien und der SED während dieser Zeit betrachtet.

Bemerkenswert ist die Feststellung Kunzes, daß nach 1980 in der Westberlin-Politik der DDR immer mehr die Kommerzialisierung der deutsch-deutschen Beziehungen, wie sie in der SED-Führung um Mittag und Schalck-Golodkowski betrieben wurde, die Oberhand gewann über Statusfragen, wie sie vom Außenministerium erhoben wurden. Für Gebietsaustausche, Verkehrsbauten, Transitpauschalen u. a. m. ließ sich die DDR vom Senat und von der Bundesregierung Millionenbeträge zahlen, die nicht nur in ihre ruinöse Wirtschaft flossen. Bezeichnenderweise wurden von diesen Mitteln auch Gelder für den Ausbau der „modernen Grenze” gegenüber Westberlin verwendet. Enthüllend für das Doppelspiel der DDR ist auch das Kapitel „Das MfS und die Kontakte zwischen Senat und DDR”.

Trotz allem endete die Geschichte der Vertragspolitik mit einer positiven Gesamtbilanz: „Von 1963 bis 1989 wurden zwischen West-Berlin und der DDR 40 Vereinbarungen abgeschlossen, von denen 15 den Reise- und Besucherverkehr und 3 den Austausch von Gebieten behandelten.” Für die Einleitung und Stabilisierung des europäischen Entspannungsprozesses, der zum Ende des Kalten Krieges führte, hatten alle Kontakte, Gespräche, Verhandlungen und Vereinbarungen einen wesentlichen Baustein gelegt. Am meisten profitierten davon die Menschen im geteilten Berlin und im geteilten Deutschland.

Insgesamt zeichnet sich das Buch von Gerhard Kunze durch souveräne Sachkenntnis und durch gut lesbaren Stil aus. Es füllt eine Lücke aus im zeitgeschichtlichen Berlin-Schrifttum.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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