Rezension von Monika Melchert



Eine Epoche machende Zeit - besonders für die Frauen

Birgit Haustedt: Die wilden Jahre in Berlin
Eine Klatsch- und Kulturgeschichte der Frauen.
Edition Ebersbach, Dortmund 1999, 240 S., 100 Abb.
 

In einem Jahrzehnt war Berlin tatsächlich eine Kunstmetropole, eine Weltstadt der avantgardistischen Kultur: in den Zwanzigern. Sie werden gemeinhin die „goldenen Zwanziger” genannt, und zumindest was das Niveau der Künste und Künstlerinnen anbetraf, ging dieser Glanz wahrnehmbar von ihnen aus. Daß Frauen dabei eine beträchtliche Rolle gespielt haben, wußte man längst. Birgit Haustedt, eine promovierte Literaturwissenschaftlerin, hat ihren Blick nun ganz dezidiert auf jene Künstlerinnen der verschiedenen Sparten gelenkt, die Berlin das Gepräge gegeben haben, und dabei ein schönes, zuweilen gar aufregendes Buch mit zahlreichen historischen Abbildungen geschaffen. (Der Bildnachweis zeigt, daß die Fotos aus der ganzen Welt zusammengeholt wurden, aus Berlin und New York, aus Frankfurt, Jerusalem usw.) Da sind die Kabarettistin Claire Waldoff, die Schriftstellerinnen Vicki Baum und Irmgard Keun, die Schauspielerinnen Marlene Dietrich, Leni Riefenstahl und Pamela Wedekind, die Tänzerinnen Valeska Gert, Anita Berber und Mary Wigman, die lesbische Ärztin und Psychoanalytikerin Charlotte Wolff, die Bildhauerin Jula Cohn, die Intellektuellen Erika Mann und Ruth Landshoff, Dora Benjamin und Helen Hessel - und natürlich die Dichterin Else Laske-Schüler, die „Königin der Cafés”. Das „Romanische Café” als eines der wichtigsten Zentren dieser Kultur ist in der Darstellung ebenso präsent wie auch das vornehme „Monbijou”, Berlins exklusivster Lesbentreff, wo eine lesbische Subkultur ihren Platz fand. Sie kannten sich alle untereinander, bezogen sich aufeinander (Jeanne Mammen zeichnete 1929 das Porträt Valeska Gerts, Otto Dix malte 1925 Anita Berber), doch nicht etwa Frauen separiert von Männern, sondern im Gegenteil: Gerade als gleichwertig mit den Männern entwickelten die Frauen ihr Selbstbewußtsein.

Anita Berber, die den Skandal nicht scheute und im Tanzklub nackt auftrat, konnte jedoch auch ganz Dame sein und in eleganter Garderobe posieren - je nach Gelegenheit. Manch andere Künstlerin der Zwanziger fehlt durchaus, wie etwa die Dramatikerin Ilse Langner, die 1929 einen beachtlichen Erfolg mit dem Emanzipationsstück „Frau Emma kämpft im Hinterland” im Theater Unter den Linden erlebte, in dem die Abtreibungsproblematik eine zentrale Rolle spielt. Aber natürlich kann es nicht um Vollständigkeit gehen, sondern um das Exemplarische. Über Erika Mann heißt es: Sie steigt „selbst in ein Auto und fährt Rallye. Einmal durch ganz Europa. Kein Zeit verlieren! Zwischen Tanken und Reifenwechsel schreibt sie rasch Reportagen für eine Zeitschrift namens ,Tempo`. Nach zehn Tagen und 10 000 Kilometern erreicht sie den Kurfürstendamm - als erste.” Die Faszination moderner Technik und schneller Autos auch auf Vicki Baum kann man in ihrem berühmten Roman Menschen im Hotel nachlesen. Und daß sie boxen lernt (wie auch Marlene Dietrich), gehört durchaus zum Ton der Zeit. In Irmgard Keuns Roman Das kunstseidene Mädchen (1932) wird vorgeführt, wie die Großstadt Berlin die Frauen magisch anzieht, die etwas aus sich machen wollen. Selbstaussagen von Männern wie die von Josef von Sternberg, daß ausschließlich er die Frau Marlene Dietrich als Mythos geschaffen habe, werden hier widerlegt, indem die Autorin zeigt, wie diese modernen Frauen sich selbst in ihrem neuen Selbstverständnis aufgebaut haben - oft unter enormen Kraftanstrengungen. Obwohl es in dem Buch um Frauen geht, kommen sie hier irgendwie alle vor, die Größen des intellektuellen und künstlerischen Lebens in Berlin: Brecht und Gründgens, Kerr und Klaus Mann, Walter Benjamin, Fritz Landshoff oder Josef von Sternberg. Überhaupt Theater, Revuen, Cabarets, die Revuetänzerinnen und Nachtklubsängerinnen - das waren die Highlights der wilden Jahre in der Hauptstadt der Weimarer Republik. Ein wichtiges Stück Kulturgeschichte Berlins.

Es waren die Zwanziger ja nachgerade eine Epoche machende Zeit - besonders für die Frauen und ihre gesellschaftliche Entwicklung. Bürgerliche Rollenklischees, sexuelle Tabus werden in der Öffentlichkeit über den Haufen geworfen; plötzlich sieht man selbstbewußte, rauchende und trinkende Frauen allein in Cafés sitzen - das wäre vor dem Ersten Weltkrieg undenkbar gewesen. Für eine kurze Zeit - wenigstens in Künstler- und Intellektuellenkreisen - werden die Konventionen der Geschlechterverhältnisse aufgebrochen und gründlich revidiert. Das Erstaunliche: Mit den neuen künstlerischen Formen werden erkennbar auch neue Inhalte transportiert. Doch nicht nur die zwanziger Jahre werden betrachtet, sondern manche Künstlerinnenentwicklung verfolgt Birgit Hausted weiter über die dreißiger und vierziger Jahre hinaus - so die unter den Nazis stimulierte Erfolgsstory von Leni Riefenstahl, die mit der Filmregie eine der letzten Männerdomänen erobert. Die Geschichte des Filmstars Marlene Dietrich (übrigens in hervorragenden Abbildungen dokumentiert), die sich 1937 endgültig dafür entschied, nicht nach Nazideutschland zurückzukehren, wird kontrapunktisch mit der Karriere von Leni Riefenstahl gezeigt. Die Autorin stellt das Jahr 1933 als die tiefe Zäsur dar, die sie auch für die Kunst tatsächlich war, eine Zäsur, die einen Kulturschock auslöste, die der vorausgegangenen Entwicklung ein abruptes Ende setzte und ein grundlegend verändertes Frauenbild propagierte. Fast alle Frauen, von denen dieses Buch erzählt, mußten Hitler-Deutschland verlassen. Sie wurden von den Nazis als „Klub von Irrenhausanwärterinnen” diffamiert. Fortan sollte Berlin nie wieder eine solche außerordentliche Rolle für die Entfaltung von Künstlerinnen spielen wie in jenen „wilden Jahren”.

Gleichzeitig mit dem Buch hat die Edition Ebersbach unter demselben Titel einen literarischen Frauenkalender für das Jahr 2000 herausgegeben.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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