Rezension von Rulo Melchert



Ein eigenes Gesicht in der Weltliteratur

Hans-Otto Dill: Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick
Philipp Reclam jun. Verlag, Ditzingen 1999, 528 S.
 

Die Gewichtung, die die lateinamerikanische Literatur hierzulande erfuhr, geschah aus guten Gründen. Keine andere Literatur hat sich mit so außerordentlichen Leistungen und einem eigenen Gesicht in die Weltliteratur eingebracht. Dabei bedeutet „Lateinamerika” keine Nation im europäischen Sinne, wie Hans-Otto Dill in der Vorbemerkung hervorhebt, sondern einen Subkontinent ehemals spanischer und portugiesischer Kolonien. Ein zunächst recht Einheitliches zerfiel mittlerweile in zwanzig Nationalliteraturen. Dennoch ist mit Recht von einer lateinamerikanischen Literatur zu sprechen, die sich von der europäischen durch einige Besonderheiten unterscheidet. Lateinamerika ist ein polyethnischer, multikultureller, multinationaler und mehrsprachiger Subkontinent, geprägt durch das Neben-, Gegen- und Ineinander indianischer, afroamerikanischer, euroiberischer Ethnien, Kulturen und Idiome. Spanisch und Portugiesisch sind die Sprachen, in denen man sich verständigt und Literatur schreibt; dazu kommen auch Ketschua und Nahua, während afrikanische Sprachen nur phonetischen und lexikalischen Einfluß hatten. Kennzeichnend ist, daß lateinamerikanische Literatur vielfach oral ist, die Wechselbeziehungen zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit also literarisch wichtige Sachverhalte darstellen. Nicht nur lateinamerikanische Literaturgeographie hatte Dill mit zu berücksichtigen, sondern auch einen anderen Literaturbegriff, als den in Europa herrschenden. In acht unterschiedlich gewichteten Kapiteln beschreibt diese Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick die Literaturentwicklung in den spanisch- und portugiesischsprachigen Ländern Lateinamerikas von ihren Anfängen am Ende des 15. Jahrhunderts bis in die unmittelbare Gegenwart des 20. Jahrhunderts.

Aus Mythen, Ritualen und Liedern besteht die orale indigene Literatur - siehe „Ketschua-Lyrik” -, so versucht man, die Kolonisierung emotional zu bewältigen. Diesem Bereich gegenüber steht die orale hispanische Literatur. Beide nun, als Anfang und Ausgangspunkt einer jahrhundertelangen Entwicklung, bilden die ersten literarischen Kommunikationssysteme der Neuen Welt. Mit der oralen Literatur beginnt die lateinamerikanische Literatur, nicht mit Kolumbus' „Bordbuch”, nicht mit den Berichten der Entdecker und Eroberer, die nur ihren conquistadorischen Diskurs führen. Andere Wege gehen Bartolomé de las Casas und das „Popul Vuh”. Daran anknüpfen können dann auch El Inca Garcilaso de la Vega, de Landa und Sahagun, die mit ihren Werken engagiert den indigenen-mestizischen Diskurs befördern. Das 17. barocke Jahrhundert prägt eine schon ganz eigene, kunstbetonte, autonome, genußvolle Literatur aus, im Hirtenroman, in Reise- und Abenteuerprosa, in der Barock-Lyrik. Mit Sor Juana Inés de la Cruz tritt uns hier eine Dichterin von Weltrang entgegen, es ist die bedeutendste Schriftstellerin der Weltliteratur des 17. Jahrhunderts, wie Dill schreibt. Auch ist es eine Frau, was wir unbedingt beachten müssen, die schon Forderungen nach Gleichberechtigung stellt. Zwischen Leidenschaft und Verstand ist ihre Lyrik eingespannt; Reichtum wollte die Dichterin vor allem in ihre Gedanken legen, nicht umgekehrt ihre Gedanken in Reichtum. Octavio Paz schrieb ein Buch über Sor Juana Inés, aber auch das hat die Dichterin bei uns nicht bekannter werden lassen.

Das aufklärerische 18. Jahrhundert bedeutet eine Kehrtwendung für die Literatur Lateinamerikas. Die Aufklärung, die auf Reform und Gleichberechtigung der Kolonien setzt, wird zur Ideologie der Unabhängigkeitsbewegung. Mehr Bücher und Zeitungen werden gedruckt, eine Sachliteratur entsteht, die Prosa ist das Hauptfeld der Aufklärung. Autobiographie, Brief, Manifest, Dialog und Reisebericht sind die bevorzugten Genres. Das verschärft sich im 19. Jahrhundert. Rede und Brief werden zur eigentlichen Prosa der Unabhängigkeit. „Diese Prosa ist unnarrativ”, schreibt Dill, „rhetorisch, agitatorisch; die wahre Epik fand in der Realität, in Kriegszügen, Schlachten, Staatengründungen statt.” Die Dichter der Unabhängigkeit sind zumeist politische Aktivisten, Militärs und Abgeordnete. Gleichzeitig bilden sich Literaturzentren heraus, Argentinien/La Plata, Venezuela und Kuba. Nach Romantik und Realismus - hier bedeutsam die „Gaucho-Literatur” - ist dann der Modernismo die erste eigenständige Literaturbewegung Lateinamerikas. Ein neues Selbstbewußtsein hat sich ausgeprägt, vorbei ist der jahrhundertelange Nachvollzug europäischer Literaturschulen. Das Haupt des Modernismo ist der Journalist und Diplomat Rubén Darío. 1888 erschien als erstes modernistisches Werk Azul, eine totale Negierung aller Romantik, allen Realismus und Naturalismus. Dill charakterisiert diese Liebes- und Naturlyrik als Aufwertung des Ästhetischen und der Form mit kräftigen Worten: Hier finden wir das Gefühl des Vergehens der Zeit, Wortmusikalität, Licht- und Farbenwerte, ungewohnte Adjektivierung, auserwählte Lexik, raffinierten Tempusgebrauch, Apostrophierung einer mythisch-unfaßbaren Geliebten. Auf Rubén Darío berufen sich alle nachfolgenden bedeutenden Lyriker Lateinamerikas, von Neruda bis Cardenal.

Die Zeit von der mexikanischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg ist von mancherlei Spannungen beherrscht. Die neue Realität führt zu einer Repolitisierung der Literatur, zur Solidarität mit Spanien und zur Wiederbesinnung auf spanisches Erbe, am Roman leicht abzulesen, aber auch an der Lyrik. Hierher gehört Gabriela Mistral, die erste lateinamerikanische Nobelpreisträgerin. Hierher gehören, als Vertreter eines weitreichenden Avantgardismus, der Chilene Pablo Neruda, der Argentinier Jorge Luis Borges und der Peruaner César Vallejo, auf sie geht Dill ausführlich ein. Die Avantgarde wird beschrieben als positive Reaktion auf moderne Technik, Nachrichten-, Transport- und Medienwesen, von Film über Auto bis Flugzeug und das neue dynamische Zeit- und Raumgefühl. Für Nerudas Aufenthalt auf Erden macht Dill aus: kühne, zusammenhanglose Bilder, Metaphern Metonymien, Symbole, Bilderverschachtelungen, Auflösung traditioneller Reim-, Vers- und Strophenschemata. Vallejo charakterisiert er als Dichter des Leidens, der Einsamkeit und der unschuldig Verfolgten, der Indios, Arbeiter, spanischen Republikaner. Seine Poesie ist eine angstvolle, schmerzliche, existentielle, elegische, aber auch humoristische und sprachspielerische Poesie. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts - von der Verinnerlichung über den magischen Realismus zum Neuen Roman - überschüttet uns dann mit Namen von Autoren und Werken, die uns fast alle bekannt sind, von Juan Rulfo bis Gabriel García Márquez. Mit Der Llano in Flammen und Pedro Páramo (Rulfo), mit Der Herr Präsident, Die Maismänner und Der grüne Papst (Asturias), mit Barockkonzert und Explosion in der Kathedrale (Carpentier), mit Die tiefen Flüsse und Trink mein Blut, trink meine Tränen (Arguedas), mit Die Stadt und die Hunde und Das grüne Haus (Vargas Llosa), mit Der Tod des Artemio Cruz, Terra nostra und Christoph, ungeborn (Fuentes), mit Paradiso (Lezama Lima), mit Hundert Jahre Einsamkeit, Chronik eines angekündigten Todes und Die Liebe in den Zeiten der Cholera (Márquez) beginnt erst das, was wir gemeinhin mit lateinamerikanischer Literatur verbinden. Grundthemen werden von den Autoren behandelt: Violencia, Machismo, Vetternwirtschaft, Patriarchat. Zur Geltung kommen das magische Denken und die mythische Weltsicht der Lateinamerikaner. Innerer Monolog und erlebte Rede sowie nichtlineare Romanstrukturen werden faszinierend vorgeführt. Hundert Jahre Einsamkeit wird als „totaler Roman” gefaßt, als „Darstellung der Geschichte des unabhängigen Kolumbiens in histoire, während der discours die Gesamtgeschichte Lateinamerikas, ihr spezifisches Neben- und Ineinander der Geschichtsformationen von der Gentilgesellschaft bis zur Moderne als vor- und fremdbestimmt, als kolonial und peripher sowie gleichnishaft die Menschheitsgeschichte von Schöpfung bis Apokalypse umfaßt. Diese Geschichte ist als Totalität politische und Wirtschaftsgeschichte, vor allem jedoch Geschichte der Kultur und des Menschen Lateinamerikas.”

Im letzten Kapitel beschreibt Dill das letzte Halbjahrhundert lateinamerikanischer Literaturgeschichte als „Nationalliteraturen zwischen Südkegel und Karibik”, d. h. von Argentinien bis Kuba. Der gesamtkontinentale Zusammenhang bis in die 70er Jahre ist heutzutage nicht mehr gegeben, der kleinflächige nationalliterarische Kontext ist wieder bedeutsamer geworden. Das Nationale, wie Dill hervorhebt, meint jetzt weniger die kulturelle Identität als vielmehr die nationale Variante sich angleichender globaler, postmoderner Gesellschaft und Kultur. Dill weist auf Parallelentwicklungen hin, die aber nicht Zeichen für wechselseitigen Einfluß und die Existenz einer gemeinsamen Literatur sind. In der Postmoderne der 80er und 90er Jahre macht er folgende Probleme der Menschheit aus: Ökologie, Aids, Tourismus, Drogenszene, das und anderes werden thematisiert. Dazu gehören auch die Probleme von Minderheiten bzw. neuer gesellschaftlicher Gruppen, wie Frauen, Schwule, graue Panther, Jugendliche, Ethnominoritäten, Marginalisierte, Einwanderer. Lateinamerikanische Spezifika sind dann Pauperisierung, Informalität, Machismo und Violencia - eine postmoderne urbankosmopolitische Realität. In einem „Ausblick” schreibt Dill, daß sich durch die Globalisierung die Wirklichkeit Lateinamerikas immer mehr der Europas und der USA angleiche, „was das Ähnlichwerden der Literaturen beider Weltteile zur Folge hat”. Doch, fährt er fort, was tröstlich ist, erhalten bleibe die für Lateinamerika charakteristische Polyethnie, das indianische Erbe, das afroantillische Substrat, die tropisch-exuberante Natur, die einmalige Tradition von Magie, Mythos und kolonialem Barock, literarischem Modernismo, Neuem Roman und „novelatestimonio”.

Die Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im Überblick ist ein dichtgeschriebener Text, der nicht in allen seinen Teilen ausgeschrieben wurde. Er besitzt lexikalischen Charakter, enthält Wesentliches im Überblick, im einzelnen wird vieles auch nur angedeutet. Kritik wird selten geübt, nur politische Haltungen und Bekenntnisse von bestimmten Autoren, etwa Neruda und Amado, werden summarisch hinterfragt. Hans-Otto Dill schreibt engagiert und preßt große Teile in die Abkürzung, ins Stichwort. Großzügig wird mit Fachbegriffen umgegangen, ohne daß diese im einzelnen erklärt werden. Immer wieder einmontiert sind Textproben von Autoren, das macht das Ganze ein wenig anschaulicher, verschafft einem auch eine Ruhepause beim Lesen. Manchmal ist es bewundernswert, was Dill in einem einzigen Satz zu sagen weiß, wie er z. B. das Werk eines Autors oder die politische Situation in einem Land charakterisiert. Solch eine Literaturgeschichte liest man nicht hintereinanderweg, sondern zieht sie als Nachschlagewerk zu Rate, wenn man einen Autor einordnen will oder Interpretationshinweise für einzelne Werke sucht. Ein Verzeichnis der Abkürzungen erfaßt nur die Länder. Das Namensregister ist eine wesentliche Findehilfe. Literaturhinweise gibt es nach jedem Kapitel.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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