Rezension von Rudolf Kirchner



Ein lautstarkes Plädoyer für eine höhere Wertung der Praxis

John Dewey: Die Suche nach Gewißheit
Eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 319 S.
 

Die philosophische Literatur kennt wie jeder andere Bereich ihre Bestseller, die über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg immer wieder neu aufgelegt werden und die auch in jeder neuen Generation ihre Leser finden - nicht nur unter den professionellen Philosophen. Die vorliegende Arbeit des US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey (1859-1952), entstanden aus einer Vorlesungsreihe, zählt sicher nicht dazu. Überhaupt hatten es die amerikanischen Denker in der Vergangenheit schwer, sich in Europa und speziell in Deutschland durchzusetzen. Das läßt sich philosophiegeschichtlich an verschiedenen Strömungen und ihren Repräsentanten belegen, wobei wohl der Pragmatismus eines der aussagekräftigsten Beispiele darstellt.

John Dewey gehörte zu den Wortführern dieser philosophischen Strömung, die am Ausgang des 19. Jahrhunderts im anglo-amerikanischen Raum entstanden war. Er stand unter dem geistigen Einfluß von William James (1842-1910), der zu den Begründern des Pragmatismus zählt. Schon früh entwickelte er eigene erkenntnistheoretische Ansichten - so in der Arbeit „Studies in Logical Theory” aus dem Jahre 1903 -, die ihm den Ruf einbrachten, Vertreter eines Instrumentalismus zu sein. Für ihn bestand das Wesentliche an einem pragmatischen Instrumentalismus darin, Erkenntnis und Praxis gleichermaßen als Mittel anzusehen, um die realen Dinge in der Erfahrung zu bewahren.

So ist denn Die Suche nach Gewißheit ein lautstarkes Plädoyer für eine höhere Wertung der Praxis - und damit zugleich eine polemische Auseinandersetzung mit der Überhöhung der Theorie, der „reinen Erkenntnis” u. ä., wie sie in der Geschichte der Philosophie nach Ansicht Deweys zu finden ist. „Warum steht die Praxis zugleich mit der Materie und dem Körper in derart geringem Ansehen? (...) Wie hat sich die Trennung des Intellekts vom Handeln auf die Erkenntnistheorie ausgewirkt?”, das sind Fragen, die im Mittelpunkt der Vorlesungsreihe stehen. Als Ziel seiner Überlegungen gibt er abschließend an, die Instrumente, die Werkzeuge zu loben und sie auf eine Stufe mit den Zielen und Konsequenzen zu stellen.

Begonnen wird mit einer kritischen Sichtung der vorherrschenden Auffassungen, wobei Kant und Hegel ebenso eine Rolle spielen wie das zeitgenössische philosophische Denken. Dabei wird in der Polemik bereits die eigene Position entwickelt, so vor allem zur Bestimmung und zum Wesen von Ideen. Das Denken wird als eine zielgerichtete Aktivität bestimmt, das die Bedingungen verändert, unter denen Gegenstände beobachtet und gehandhabt werden. „Ideen werden selbst erst im Verlauf wirklicher Forschungen experimentell entwickelt. Sie entspringen in dem, was Menschen natürlicherweise tun, und werden im Verlauf des Tuns überprüft und verbessert.” Dewey betont also den aktiven und produktiven Charakter von Ideen, kennzeichnet sie zugleich als hypothetisch, als nicht abgeschlossen, und bestimmt das Handeln als den innersten Kern der Ideen.

Als beunruhigend wird angesehen, mit welcher Schwerfälligkeit die Menschheit altgewohnte Überzeugungen ablegt. Als Ursache werden das Verlangen nach Sicherheit und das Unbehagen gegenüber dem Zweifelhaften benannt. „Verlangen nach Sicherheit, das die Form des Wunsches annimmt, nicht gestört und beunruhigt zu werden, führt zu Dogmatismus, Autoritätsgläubigkeit, Intoleranz und Fanatismus auf der einen Seite und zu unverantwortlicher Abhängigkeit und Faulheit auf der anderen.” Dagegen betont Dewey, daß Erkenntnisfortschritte meist nicht bei der Übernahme von Bekanntem entstanden sind, sondern durch eine Revision vorhandener Ansichten. Dabei verweist er als modernes Beispiel auf die revolutionäre Bedeutung der Einsteinschen Relativitätstheorie. Er findet starke Worte in der Auseinandersetzung mit der Unterschätzung der praktischen Aktivität und kritisiert jene Ansichten, die der Vernunft lediglich die Aufgabe zubilligen, die Welt - als rationale Struktur verstanden - zu kopieren. Das Denken darf nach Dewey nicht länger wie ein Zuschauer die Welt von außen betrachten: „Vom Erkennen als einem Betrachten von außen zum Erkennen als aktiver Teilnahme am Drama einer sich voranbewegenden Welt - das ist der historische Übergang, dessen Geschichte wir verfolgt haben.”

Wer Anregungen sucht bei der eigenen Überlegung, wie man zu Gewißheiten über die Welt, über das Leben, über die Werte und sich selbst gelangt, der sollte Dewey lesen; nicht so sehr aus philosophiehistorischer Sicht, sondern als aktuelle geistige Provokation. Dabei kommt dem Leser entgegen, daß die Sprache dieses Denkers keineswegs antiquiert ist, sondern klar, argumentierend, um Verständnis ringend. So kann das Buch, auch wenn man nicht mit den Ansichten des Autors in allen Einzelheiten einverstanden sein muß, zu einem intellektuellen Erlebnis werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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