Rezension von Waldtraut Lewin


cover  

Das Phänomen des Erinnerns

 

Jorge Semprun: Unsre allzu kurzen Sommer
Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer.

Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1999, 251 S.

 

Welche Veränderung! Wenn der Ausschnitt aus dem leicht grünstichigen Jünglingsporträt auf dem Cover, wie ich vermute, den jungen Jorge Semprun darstellt - dies ernste, forschende, sensible, vom Leben noch nicht gezeichnete Gesicht; und dagegen auf der hinteren Klappe das Foto des Autors: tragisch gesammelt, den jugendlichen Ernst fast ins Finstere verkehrt, gezeichnet von den Jahren, aber immer noch dieser gerade Blick auf das Leben zu, Mut und Bereitschaft, dem die Stirn zu bieten, was kommt. Während der Lektüre mußte ich immer wieder unterbrechen und diese beiden Gesichter vergleichen.

Zwischen ihnen liegt ein Leben, das die Schicksale unseres Jahrhunderts wie in einem Focus in sich versammelt. Semprun, 1923 in Madrid geboren, tritt im französischen Exil 1942 in die Kommunistische Partei ein und wird ein Jahr später, gerade zwanzig Jahre alt, nach Buchenwald deportiert. Schock des Konzentrationslagers, dokumentiert in Büchern wie Die große Reise oder Was für ein schöner Sonntag, bestimmt über lange Zeit sein Schreiben. Semprun, der im Untergrund gegen das Franco-Regime gekämpft hat und sich bereits in den 60er Jahren gegen den Kommunismus in seiner stalinistischen Form ausspricht (1964 erfolgt sein Ausschluß aus der KP Spaniens), wird 1988 im liberalisierten Spanien zum Kulturminister des Kabinetts Felipe Gonzales berufen. Sein Scheitern in dieser Position und die Gründe dafür beschreibt er in Federico Sanchez verabschiedet sich. Semprun erhält 1994 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Jetzt, vier (bzw. in deutscher Übersetzung fünf) Jahre später, liegt ein Buch vor, das er selbst als „eine Biographie” bezeichnet - freilich die Biographie eines ganz bestimmten Lebensabschnittes, denn kaum ein Buch Sempruns hat keine autobiographischen Züge.

Es sind dies die frühen Erinnerungen, die Erinnerungen an Kindheit und Jugend. 1936 ist der Zeitpunkt des Einstiegs: Die großbürgerlich-republikanische Familie Semprun - Vater und sieben Kinder - flieht vor Franco aus Spanien. Alles wird anders, die Jahre der Emigration beginnen. „Ich war fünfzehn und der spanische Krieg war verloren.”

Sempruns assoziatives Gedächtnis führt ihn von diesem Punkt zurück in die frühesten, traumhaften Zonen seiner Kindheit und weit vor in spätere Regionen seines Lebens und Schaffens, springt mit der Leichtigkeit und Genauigkeit einer Gazelle von Punkt zu Punkt, bringt beiläufig die intellektuelle Elite halb Europas ins Spiel, berichtet von prägenden Begegnungen und Lektüren, von Jugenderlebnissen, wie den ersten erotischen Erfahrungen des Knaben - oder von jener Bäckersfrau, die mit Verachtung auf seinen spanischen Akzent reagiert und um derentwillen er in wenigen Wochen wie ein Einheimischer französisch sprechen lernt.

Der entscheidende Ansatz für die Darstellung dieses Lebensabschnitts aber ist die Zeit d a v o r. Die Zeit vor Buchenwald.

„Selbst in den Erzählungen, die von der persönlichen Erfahrung am weitesten entfernt waren, in denen alles stimmte, weil ich es erfunden hatte, und nicht, weil ich es erlebt hatte, war der alte Brandherd am Werk, glühend oder unter der Asche glimmend.” So bekennt Semprun in bezug auf die KZ-Erlebnisse. Dieser Bericht des Heranwachsens und des Exils ist das Ringen um innere Freiheit, der Kampf gegen das beherrschende Lebenstrauma eines großen Erzählers.

Unsre allzu kurzen Sommer - das ist das Ende einer Verszeile Baudelaires:

„Bald werden wir in kalte Finsternis tauchen:
Leb wohl, strahlende Helle unsrer allzu kurzen Sommer!”

Und mit diesen Worten endet das Buch, melancholisch, fast resigniert. Aber bis zu diesem Punkt: Welche Genauigkeit der Wahrnehmung ist hier am Werke, und welche mediterrane Klarheit liegt noch über den tristesten Begegnungen dieser Jugend! Das ist das Licht romanischer Akribie und kämpferischer Humanität, das sind, in der Verbindung von intellektueller Vielfalt, sprachlicher Präsenz und gedanklicher Präzision, die Werte Europas, falls es denn überhaupt welche gibt. Um zu zitieren, „die Freiheit, die Autonomie, die Würde des Menschen ... Werte, die höher sind als der des nackten Lebens an sich.”

Und: Semprun atmet den Geist der Rückbesinnung und des Abschieds. Es ist eine tief bewegende Stelle, wenn der Autor davon berichtet, wie die fiktiven Personen, hinter denen er sich innerhalb seines literarischen Lebens gern verborgen hat wie hinter Masken, eine nach der anderen verschwinden, abgeworfen werden. Eine fast beiläufige Bemerkung: „Nunmehr stehe ich nackt vor dem Tod. Er wird seine Stunde wählen, ich werde bereit sein. Offengestanden bin ich schon seit geraumer Zeit bereit.”

Wir bitten und hoffen, daß uns diese Stimme noch eine Weile erhalten bleibt. Sie gehört mit zum Besten, was dies durchgerüttelte Jahrhundert hervorgebracht hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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