Rezension von Sebastian Kiefer



Ein intellektueller Drahtseilakt in Sachen Schöpfung

Harry Mulisch: Die Prozedur
Aus dem Niederländischen von Gregor Seferens.
Carl Hanser, München 1999, 271 S.
 

Zweiundzwanzig Buchstaben hat das hebräische Alphabet. Zweiundzwanzig Konsonanten, um genau zu sein. Gott - „JHVH” - zeugte und gebar es und mit ihm die Welt: „Er entwarf sie, meißelte sie aus, wog sie, kombinierte sie und vertauschte sie untereinander, jeden gegen jeden; mit ihrer Hilfe formte er die ganze Schöpfung und alles, was noch geschaffen werden sollte.” So steht es im Sefer Jezira, dem „Buch der Schöpfung”, nicht einmal fünf heutige Seiten lang, bis heute eine kanonische Quelle jüdischer Mystik, 1700 Jahre, nachdem irgendein palästinensischer Neupythagoräer sie zu Papier brachte.

Die Schöpfung ist die Entfaltung einer Schrift, eines Codes - ein uralter Glaube, bizarr und dunkel auf der einen Seite, Gegenstand gelehrtester, spitzfindigster Traktate auf der anderen Seite. Und er lebt, dieser Glaube. Nicht in seiner ursprünglichen Gestalt unbedingt, aber er lebt. Das Leben ist die Entfaltung eines geheimen Codes auch für uns Kinder des Gen-Zeitalters. Die Genetik ist die Kabbala unserer Epoche - das ist der Grundeinfall des neuen Romans von Harry Mulisch, der für Holland seit Jahrzehnten auf der Wartebank für den Nobelpreis sitzt. (Er ist dem Thema seines Erfolgsbuches Die Entdeckung des Himmels, der geheimen Verwandtschaft von Theologie und Naturwissenschaft, also treu geblieben.) Verpackt hat er den Einfall in eine vielbödige Geschichte, die gewagter ist als alles, was er zuvor geschrieben hat, eine Melange aus Krimi, Liebesgeschichte, historischen Skizzen und gelehrten Miniaturkärtchen. Jedem anderen wäre das aus den Händen geglitten, nur bei ihm konnte etwas anderes daraus werden als bloße Spielerei. Ein intellektueller Drahtseilakt in Sachen Schöpfung.

Ein spekulatives Motiv, das einer auf dem Drahtseil vor sich her balanciert. Daß man nicht abstürzt, hat man nur einem zu verdanken, dem Erzähler selbst. Nicht, daß der - jedenfalls der sichtbare Teil von ihm - besonders konsequent wäre, im Gegenteil. Auch er spielt ein Spiel. Mit dem Leser zuallererst, aber auch und - vielleicht - ein bißchen ungewollt mit sich selbst. Schon den Anfang findet er nicht recht, jedenfalls tut er so: „Klar, ich kann natürlich mit der Tür ins Haus fallen und mit einem Satz beginnen wie ,Das Telefon läutete`. Wer ruft wen an? Warum? Es muß sich um etwas Wichtiges handeln, denn sonst würde die Akte nicht anfangen. Spannung! Action! Aber das geht diesmal nicht. Im Gegenteil. Bevor hier etwas zum Leben erweckt werden kann, müssen wir beide uns durch Einkehr und Gebet vorbereiten.” Und dann zieht dieser Herr, der sich uns noch gar nicht vorgestellt hat, in die nebligen Höhen der Kabbalistik hinauf: Adam wurde nicht nur einmal geboren, so werden wir nun belehrt, man muß nur die Genesis genau lesen. Mithin ist Eva gar nicht seine erste Frau. Die erste Frau geriet nur in Vergessenheit - bis gelehrte Rabbiner sie zwischen allerlei ergrauten Pergamenten wieder ans Licht hoben. Lilith hieß sie. Mit ihr begannen die Dinge der Schöpfung einen weniger glücklichen Lauf zu nehmen. Aus erotischen Gründen wohl, denn etwas stimmte nicht mit ihrem Adam überein. Vielleicht Evas wegen, die noch halb in seinen Rippen steckte. Und also entfuhr ihr ein Fluch - ausgerechnet der Name des Unaussprechlichen kam über ihre Lippen. Und fortan treibt sie, verwandelt in einen Dämon, unter den Erdenbürgern ihr Unwesen. So kam das Böse in die Welt, lange vor der Geschichte mit Eva, sagt die Kabbala, sagt Mulisch.

Und also mußte der Unaussprechliche Adam ein zweites Mal schaffen. Das ist die berühmte Stelle mit dem Lehm und dem Lebenshauch (Genesis 2, 7). Wie das genau zuging, verschweigt uns die Bibel. Aber, gottlob, da ist ja das Sefer Jezira, die Lehre von dem uranfänglichen Alphabet und den Dingen, die JHVH daraus formte. Und es gibt die, die sich aufmachten und der Welt tatkräftig beweisen wollten, daß das alles andere als bloßer Gelehrtenstubenspuk ist. Und manche haben es auch geschafft, heißt es, Rabbi Löw zu Prag vor allem. Jahre des Studiums gibt er dran, nicht freiwillig, denn vom Gelingen seines Tuns hängt ab, ob der Kaiser seinen Juden fürderhin Schutz gewährt. Löw schlägt sich gut, besser, als man erwarten konnte, nur sein Gehilfe ist auch nicht besser als der Schöpfer selbst. Während der Stunden, da Meister und Diener den Lehmklumpen umkreisen, bringt er ein paar Silben durcheinander, man muß wieder ein paar Runden zurück und verbessern. (JHVH brauchte schließlich auch zwei Anläufe.) Das Experiment gelingt wohl, allein es wird kein Golem draus, das heißt, kein männlicher, sondern ein weiblicher. Und wieder ist eine Schöpfung - nein, nicht mißlungen - anders ausgefallen, als vom Schöpfer vorgesehen.

Vier Jahrhunderte später (1952) geht dagegen alles glatt. Es ist auch ein bißchen profaner geworden, eine gewöhnliche Zeugung in einer sehr gewöhnlich erkalteten holländischen Ehe. (Die allerdings in Prag geschlossen wurde.) Viktor Werker erblickt das Licht der Welt, und keiner ahnt, daß es auch diesmal wieder eine zweistufige Schöpfung geben wird. Viktor, das Geschöpf, wird nämlich wieder Schöpfer, nicht nur leiblich, sondern auch, wie der Rabbi, per Gelehrsamkeit. Er wird Genetiker und überbrückt die Kluft zwischen Materie und Leben auf seine Weise - er schafft den gentechnischen Homunculus namens „Eobiont”. Berühmt wird er, ein Herr über das Leben und Nobelpreiskandidat. Eine Freundin hat er auch, schwanger wird sie, doch dann ist es aus mit der Gebieterei über das Leben: Sie verläßt ihn, weil er, der angebliche Schöpfer, ihr Kind nicht wiederzuerwecken vermag, das tot zur Welt kommt. Der Gelehrte flieht und schreibt der Tochter - die es nicht auf Erden, sondern nur in seiner Phantasie gibt - Briefe und weint sich aus über sein Unglück. „Aurora” nennt er sie, denn aus dem Wort Morgenröte ist auch Eobiont abgeleitet. (Sein geplantes Buch über den Eobionten soll den Titel „Auroras key to life” tragen.)

Und nun sind wir ganz gefangen im Varieté der Schöpfungen: Leiblich ist das Zeugungsbemühen des Helden fehlgegangen - oder ist Aurora nur rein geblieben von irdischer Befleckung? Die mit der schon im Mutterleib abgestorbenen Aurora schwanger gehende Clara - ein sprechender Name wie „Werker” - ist „ein lebender Sarkophag”. Ist der Fehler der genetischen Utopie, daß sie nicht Hand in Hand gehen will mit den mütterlich schöpferischen, aber auch todbringenden („chtonischen”) Mächten und sich selbstherrlich autonom macht?

Das Buch ist ein Kartenhaus. Man kann es so oder so aufbauen, keine Lösung ist endgültig, aber alle haben etwas für sich. Der Erzähler spielt mit dem Leser wie ein Reiseführer, der einen auf immer neue Ausblicke hinweist, doch nie auf ihren Zusammenhang: In der Synagoge des Rabbi Löw läuft eine Uhr linksherum - wir erinnern uns der Einleitung, in der man erfuhr, eine Geschichte erzählen, das geschehe im Wunsch, die Zeit umzukehren, als ließe man einen Film rückwärts laufen. Und daran, wie der Rabbi Löw rückwärts gehen mußte bei seiner leibhaftigen Schöpfung. Als der weibliche Golem, der dadurch entstand, den Gehilfen mordet, weil der Rabbi ihn zum Maß nahm für seinen Lehmklumpen, da erinnern wir uns - ja woran, an den Eobionten, an Aurora oder an beide auf einmal? Als der Held in Ägypten herumirrt, fällt ihm ein, daß Hegel die Pyramiden „ungeheure Kristalle” genannt hat - Kristalle, elementares Leben, das aus totem Stoff gezüchtet werden kann. Schildert Werker jugendliches Masturbieren, erinnert ihn das an Paracelsus' Herstellung des Homunculus, der Eobiont wäre dann gewissermaßen eine moderne Form der Onanie. Als in einer Fernsehsendung nach dem bedeutendsten Kunstwerk des 20. Jahrhunderts gefragt wird, schlägt man Werkers Schöpfung vor. Werker, der Pygmalion unserer Zeit, heißt es. Narzißtisch vom Leben abgezogen, das wohl doch nie so entzifferbar ist, wie es sich der Genetiker erträumt.

Am Ende bleiben es zwei verschiedene Paar Schuh', das genetisch gepanschte Leben und das richtige Leben. Das richtige holt Werker in Gestalt zweier dunkler Männer ein, Abgesandte des Satans vielleicht oder eines Gottes, der sich (wie in der „Entdeckung des Himmels”) auf die Schliche gekommen sieht. Oder einer sehr irdischen Verschwörung, die im Namen des unmanipulierten Lebens glaubt, töten zu dürfen. Auch das muß der Leser für sich lösen.

Alles bleibt offen, nur einer steht am Ende als Meister da, der alles in der Hand hält - der Erzähler selbst. Werker wird nämlich abgeholt just im Moment, da sein (portables) Telefon läutet. Spätestens jetzt merkt der Leser, der Erzähler wußte alles vorweg in diesem Buch. Nur, daß er zwischendrin - zum Vorteil des Lesers - weisgemacht hat, es liefen ihm die Fäden aus der Hand in diesem wunderbaren Buch. Wie dem lieben Gott höchstderoselbst.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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