Rezension von Hans-Rainer John


cover  

Das Ende der osmanischen Herrscher

 

Kenizé Mourad:
Im Namen der toten Prinzessin
Roman eines Lebens.
Aus dem Französischen von Brigitte Weidmann.

Piper Verlag, München 1999, 624 S.

 

Hier ist von einem hochinteressanten, sehr informativen und dabei psychologisch tief lotenden Buch zu berichten, das aus der Feder einer Frau stammt, die sich nicht einmal als Schriftstellerin bezeichnet: Kenizé Mourad, geboren 1939 in Paris, lebt dort als politische Journalistin und Auslandskorrespondentin für den Vorderen Orient. Aber sie ist die Tochter der letzten türkischen Prinzessin Selma, die von 1911 bis 1941 lebte. Die jung verstorbene Mutter vermochte Mourad nicht mehr kennenzulernen, aber im vorgeschrittenen Alter versucht sie, sie zu verstehen und sich ihr anzunähern: Sie befragte alle, die sie kannten, sie zog Geschichtsbücher, Zeitungen und Familienarchive zu Rate, sie hat sich überall aufgehalten, wo die Mutter einmal gelebt hat, rekonstruierte den Rahmen und die Umstände ihres Lebens, vertraute sich schließlich hinsichtlich der offengebliebenen weißen Flecke ihrer Eingebung an und ihrer Phantasie. Das Ergebnis ist ein tiefbewegender „Roman eines Lebens”, der, weit mehr als ein biographischer Report, durchaus mit literarischen Maßstäben zu messen ist und dabei Anspruch auf einen vorderen Rang erheben kann.

Die Handlung setzt 1918 ein, da ist Selma ein siebenjähriges Mädchen. Mit wachen Sinnen bereits erlebt sie die gottgleiche Verehrung der Sultansfamilie, zu der sie gehört und durch deren Adern schon sechs Jahrhunderte kaiserliches Blut pulst. Sie erlebt den Prunk, die Schönheit, den durch Tradition entwickelten Geschmack am Hofe von Istanbul, die starre Zeremonie, die formvollendete, kalte Etikette. Aber Mißgunst, Mißtrauen und Zerfall haben in den letzten Jahrzehnten die politische Macht der Herrscher des Osmanischen Reiches geschwächt. Resat, der letzte Sultan (1909-1918), ist nur noch konstitutioneller Monarch, nach der „Jungtürkischen Revolution” hat ein Triumvirat von Politikern die Geschäfte übernommen und die Türkei an der Seite Deutschlands in den Krieg geführt. Mit Deutschland wird auch die Türkei niedergeworfen, Engländer, Franzosen, Italiener und Griechen überziehen das Land als Besatzer und wollen es zerstückeln. In der Stunde höchster Not vermag sich der Sultan nur nach Yildiz zurückzuziehen und dort zu beten, während Mustafa Kemal, ein entschlossener und strategisch genialer General, den Widerstand in Anatolien organisiert. Er stellt eine Armee zusammen, treibt die fremden Truppen aus dem Land, rettet die Türkei. Er schafft das Sultanat ab, proklamiert die Republik, macht sich als Atatürk zum Präsidenten, sorgt für die Gleichberechtigung der Frau und verbannt die kaiserliche Familie.

In der festen Hoffnung, es handle sich nur um ein kurzes Zwischenspiel und das treu ergebene Volk werde die baldige Rückkehr durchsetzen, zieht die Sultanin Hatice mit ihrer Tochter, der Prinzessin Selma, und einigen Bediensteten ins nahe gelegene Beirut. Aber das Kalkül geht nicht auf, der Atatürk festigt seine Macht, die Jahre vergehen, bald ist der letzte Schmuck versetzt, Hatice und Selma verarmen und sind als Fremde im Exil isoliert. Nur eine standesgemäße Eheschließung Selmas bietet sich als Ausweg an. Hatice läßt ihre Verbindungen spielen. Da bietet der Radschah von Badalpur seine Hand an, Amir, Regent über eine kleine indische Provinz mit einer Stadt von 30 000 Einwohnern und 200 Dörfern. Selma willigt ein, ohne den künftigen Partner kennengelernt zu haben, und begibt sich auf die Reise.

Sie lernt Indien als ein Land kennen, das von den Engländern mit rassistischer Überheblichkeit und grausamer Gewalt regiert und ausgebeutet wird. Frauen und Kinder sterben täglich Hungers. Religiöse Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Muslimen, Sunniten und Schiiten, durch plumpe Provokation ausgelöst, führen ständig zu Mord und Totschlag, Aufruhr und Vergewaltigungen. Daß alte Männer Kinder heiraten und Witwen auf dem Scheiterhaufen sterben, wird immer noch praktiziert, Kinder verelendeter Familien werden von Bettlern aufgekauft und verstümmelt, um Mitleid zu erregen. Selma sucht durch Tatkraft heimisch zu werden, das Vertrauen der Frauen von Baldapur durch Hilfsbereitschaft und Freigebigkeit zu erringen, bleibt aber stets die Fremde. Amir, ihr Mann, ist jung, schön, liberal, mit dem Leben in Europa vertraut, und doch ein Gefangener der indischen Sitten und Gebräuche, ein passabler Ehemann zwar, aber ein schlechter Liebhaber, ein Mann, der fasziniert, aber auch verletzt. Als Selma unwillentlich gegen die Etikette verstößt (es geht um einen Walzer, zu dem sie sich auffordern läßt), wird sie wie ein wildes Tier eingesperrt. Die eifersüchtige Schwester des Radschahs versucht, sie zu vergiften. Daß sich die Geburt eines Thronfolgers verzögert, wird ihr nicht nachgesehen. Als sie nach zwei Jahren doch schwanger wird, fährt sie zur Entbindung nach Paris.

Erst hier schafft sie es, die Fesseln männlicher Unterdrückung abzustreifen und ihren eigenen Weg zu gehen. Sie lernt die Liebe ihres Lebens kennen, aber der amerikanische Arzt muß zunächst daheim die Scheidung durchsetzen. Inzwischen bricht der Zweite Weltkrieg aus, und Paris wird von den Deutschen besetzt. Selma bringt eine Tochter zur Welt, wird aber, durch Sorgen und Entbehrungen geschwächt, von einer Krankheit dahingerafft und einsam verscharrt.

Das Buch interessiert durchgehend, weil Taten und Gefühle, Gedanken und Vorstellungen Selmas stets differenziert, psychologisch tiefgehend und nachvollziehbar wiedergegeben werden. Arroganz, Anmaßung, Verschwendungssucht, Prunkbedürfnis der Adligen werden nicht ausgespart, aber auch die schrittweise Hinwendung zu den Mitmenschen, die Entwicklung von Mitgefühl und Solidarität mit den Schwachen werden nachgestaltet, und vor allem der immerwährende Kampf um Selbständigkeit, Entscheidungsfreiheit und eigene Würde. Von besonderem Aufschluß sind die Kapitel, die in der Türkei und in Indien spielen, weil sie eine Fülle von authentischen Informationen über Lebensverhältnisse, Sitten und Gebräuche enthalten und erlebbar machen. Dabei wird man der Autorin nachsehen, daß sie nicht immer über den Parteien steht und unbewußt auch das Klassen-, Kasten- und Standesdenken verinnerlicht hat. Natürlich befindet sie sich auf der Seite der Osmanen gegen die Christen, auf der Seite der Türken gegen die Engländer, Franzosen, Italiener und die Griechen, die als „geschwätziges Krämerpack” apostrophiert werden, auf der Seite des osmanischen Herrscherhauses gegen Mustafa Kemal. Das entschlossene Handeln und militärische Genie Kemals werden durchaus anerkannt, aber gegen seinen Ehrgeiz, seine Skrupellosigkeit, seine Machtbesessenheit, seine Sucht nach Weibern und nach Alkohol aufgerechnet. Die Autorin läßt durchblicken, daß Sultan Resat möglicherweise ein Doppelspiel betrieb, einerseits Unterwürfigkeit unter die Besatzungsmacht heuchelte, andererseits Kemal mit der Organisation des Widerstands beauftragte und dann von dem Machtlüsternen betrogen wurde. Das Todesurteil, das er gegen Kemal fällte, wäre dann natürlich nur ein diplomatischer Schachzug gewesen und von den Engländern erzwungen. Der Massenmord der Türken an den Armeniern wird von der Autorin als kriegsbedingt heruntergespielt, und daß der Sultan am Ende zu den Engländern floh, wird psychologisch begründet, auf die Duldung Kemals zurückgeführt und als halbwegs ehrenhaft gewertet - er hat ja wenigstens den Staatsschatz nicht geplündert.

Auch im indischen Kapitel finden sich solche Akzentsetzungen. Gandhi und Nehru werden ihre Verdienste im Kampf um die Unabhängigkeit Indiens nicht abgesprochen, ihre Strategie der Gewaltlosigkeit wird für richtig befunden, sie werden jedoch als Heuchler beschimpft, die die Herrschaft der hinduistischen Mehrheit (organisiert in der Kongreßpartei) über die muslimische Minderheit (organisiert in der Muslimischen Liga) propagiert hätten. Sie hätten die religiösen Auseinandersetzungen geschürt, indem sie die Rückkehr der Muslime zur hinduistischen Religion als wirksamste Waffe im Kampf gegen die Besatzungsmacht, als einzigen Weg zur Unabhängigkeit Indiens gesehen hätten. Der Hintergrund ist, daß die Aristokratie, zu der Selma gehörte, die Radschahs und Großgrundbesitzer in der Mehrzahl Muslime waren, die mit den Kolonialherren auf vertrautem Fuße lebten. Nachdem ihnen ein Gesetz die Vertreibung jener Bauern untersagte, die die Pacht schuldig blieben, schickte die Kongreßpartei Agitatoren in die Dörfer, die unter der Losung „Der Boden gehört euch” die Bauern aufforderten, keine Pacht mehr zu zahlen. Dadurch wurde die Existenzgrundlage der Großgrundbesitzer bedroht.

Trotzdem: Wie hier Geschichte aufgearbeitet, integriert, ins Verhältnis zu individuellen Schicksalen gesetzt wird, ist spannend und erhellend und öffnet aus historischer Sicht das Verständnis für Probleme, die heute zwischen Türken und Griechen, zwischen Syrien, Libanon und Israel und in Indien bestehen. Dabei ist es ein Verdienst der Autorin, daß sich die Darstellung geschichtlicher Fakten nicht verselbständigt, sondern als legitimer Bestandteil wie selbstverständlich in den Roman eingeht. Zusammen mit den sensibel und präzis ermittelten biographischen Fakten und der Vorstellungskraft, der Phantasie und dem Einfühlungsvermögen der Autorin ergibt sich auch dank ihrer Sprachkraft ein Erzählstrom, der mitreißt und begeistert. Nur der ständige Wechsel zwischen Präsens und Imperfekt, manchmal sogar innerhalb eines Satzes, stört ein wenig.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite