Rezension von Eberhard Fromm


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Selbstmord - Freitod - Suizid

Alfred Alvarez: Der grausame Gott
Eine Studie über den Selbstmord.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 1999, 350 S.

Manfred Otzelberger:
Suizid. Das Trauma der Hinterbliebenen
Erfahrungen und Auswege.
Ch. Links Verlag, Berlin 1999, 256 S.

Von der Antike bis zur Gegenwart reicht die schon unübersehbare Liste jener bekannten Persönlichkeiten aus Politik, Kultur und Wissenschaft, die sich selbst getötet haben: von Hannibal und Seneca bis Bastian und Pavese, von Nero bis Hitler, von Lukrez bis Celan, von Majakowski bis Hemingway. Wie lang muß da die Liste jener unzähligen Unbekannten sein, die Hand an sich gelegt haben! In Deutschland waren es 1997 allein 12 256 Personen, wobei es nach allgemeiner Ansicht eine hohe Dunkelziffer gibt, da der Freitod nicht selten verschleiert wird und als Autounfall, als versehentlicher Medikamentenmißbrauch u. ä. erscheint. Und Deutschland liegt in der Statistik der Selbsttötungen erst im mittleren Feld (über 17 auf 100 000 Einwohner), während Ungarn (über 38 Toten auf 100 000) die Spitze hält.

Sieht man diese Dimension, dann kommt man zu der Schlußfolgerung, daß der Freitod durch die ganze menschliche Geschichte zur Normalität des Lebens gehört. Er ist ein Weg des Sterbens, der - im Unterschied zum „üblichen” Sterben auf Grund von Krankheit, Alter, Unfall oder Verbrechen - aus eigener Absicht gegangen wird. Aber trotz dieser Normalität hat die Selbsttötung stets den Geruch des Besonderen gehabt, wovon die Tabuisierung des Problems, die Heroisierung des Geschehens und auch die Kriminalisierung des „Täters” zeugen. In der Sprache finden wir daher auch die unterschiedlichen Begriffe: Im Amtsdeutsch wird von der Selbsttötung gesprochen (in einem Lexikon fand ich die Erklärung „absichtliche Vernichtung des eigenen Lebens”), in der Umgangssprache hält sich bis heute das negativ besetzte Wort vom Selbstmord, in der um Objektivität bemühten wissenschaftlichen Darstellung spricht man vom Suizid, und in der mehr schöngeistigen Beschreibung zieht man den Begriff Freitod vor.

Alfred Alvarez benutzt in seinem Buch Der grausame Gott konsequent den Begriff Selbstmord. Seine Studie ist eine Betrachtung dieses Phänomens aus der Perspektive der schöngeistigen Literatur, von der er als Literaturkritiker und Lyriker etwas versteht. Die soziologische, psychologische und psychoanalytische Literatur dagegen bleibt ihm fremd. „Die Summe der Informationen ist erstaunlich, ihre Aussagekraft jedoch fast gleich null”, heißt es dazu bei ihm. So bindet er denn auch seine Überlegungen an konkrete Fälle - entweder aus der Realität oder aus Romanen, Stücken und Gedichten. Als Einstieg wählt er eine essayistische Darstellung des Freitods der Lyrikerin Sylvia Plath (1932-1963), geht dann ein wenig auf die Geschichte des Freitods („Der Hintergrund”) und die mit ihm verknüpften Theorien („Die geschlossene Welt des Selbstmords”) ein, um sich dann seinem Hauptthema „Selbstmord und Literatur” zuzuwenden. Hier beginnt er bei Dante und gelangt über die Aufklärung und Romantik bis zum Dadaismus. Für das 20. Jahrhundert diagnostiziert er als ein auffälliges Kennzeichen das steile Ansteigen der Selbstmorde unter Künstlern. In einer Zeit, da die Kunst immer weniger von ihrer Bedeutung und Existenzberechtigung überzeugt sei, sichere sie sich „moralischen Fortbestand, indem sie ... zu einer Nachahmung des Todes wird, an der das Publikum teilnimmt. Um dies zu erreichen, muß der Künstler ... den eigenen Tod und die eigene Verletzbarkeit für sich und an sich erproben.”

Hier spricht der Autor ganz offensichtlich im eigenen Namen, denn er teilt uns im Epilog seines Buches mit, daß er ein „gescheiterter Selbstmörder” sei, und beschreibt die Geschichte seiner versuchten Selbsttötung.

Mit diesem Bekenntnis wird dem Leser klarer, was er in den davor liegenden 300 Seiten immer wieder unterschwellig gespürt hat: Alvarez hat hier weniger eine Studie über den Selbstmord verfaßt, sondern hat bei seinen Berufskollegen, den Dichtern und Schriftstellern der Vergangenheit und Gegenwart, nach Erklärungen für sein eigenes Tun gesucht. Davon zeugen solche Sätze wie „Wie die Ehescheidung ist der Selbstmord Konkurserklärung” , daß „der Selbstmord, wie das Sexualleben, ein menschlicher Wesenszug” sei, kurz, daß der Selbstmord weder eine Krankheit noch eine Sünde sei, sondern jenseits aller sozialer und psychischer Bedingungen und jenseits aller Moralgesetze stehe: „Er ist eine schreckliche, aber völlig natürliche Reaktion auf die gespannten, drückenden, unnatürlichen Zwangslagen, in die wir uns manchmal selber hineinmanövrieren.”

Das ist e i n e Antwort auf die vielen Fragen nach den Ursachen des Freitodes. Aber: Es ist wohl mehr s e i n e Antwort, die er für sich als Erklärung gefunden hat. Die ganze Wahrheit ist es kaum.

Während die Studie von Alvarez bereits 1971 in London erschienen ist (deutsch zum erstenmal 1974), beruht das Buch Suizid des Journalisten Manfred Otzelberger auf Einsichten und Erkenntnissen der jüngsten Zeit. Wie im Untertitel ausgewiesen, geht es dem Autor mehr um die Hinterbliebenen, die einem Freitod in der Familie oder im Freundeskreis auch heute noch meist unvorbereitet und mit vielen Vorbehalten behaftet gegenüberstehen. Trotzdem findet er in einigen einleitenden Abschnitten Platz, um auf historische Aspekte des Freitods einzugehen und auf der Grundlage statistischer Untersuchungen zu zeigen, wer sich denn heute das Leben nimmt, wer zu den Risikogruppen gehört. Dann aber wird der Suizid in seiner vielfachen Gestalt aus der Sicht der Hinterbliebenen beschrieben: der Freitod des Kindes, des Partners, der Eltern, der Geschwister. Wichtige Teile des Buches befassen sich mit der Trauerarbeit, und es werden konkrete Hinweise für das Verhalten nach einem Freitod gegeben: von helfenden Institutionen bis zum Umgang mit Versicherungen.

Der Vorzug der Arbeit von Otzelberger besteht in der Unmittelbarkeit vieler Aussagen. Das hat er dadurch erreicht, daß er sein Material aus Gesprächen und Interviews mit Menschen gewonnen hat, die sich in der Selbsthilfegruppe Agus (Angehörige um Suizid) zusammengeschlossen haben. Ich könnte mir deshalb dieses Buch tatsächlich als erste Hilfe für Hinterbliebene bei einem Freitod in der Familie vorstellen. Man wird nicht mit billigen Floskeln abgespeist, sondern erfährt etwas über Ursachen, Motive und - was wohl das Wichtigste ist - daß eigene Schuldzuweisungen wenig nutzen; man muß loslassen können.

Der Autor macht eingangs auf die miserable Versorgung der Hinterbliebenen von Suizidopfern aufmerksam, er spricht sogar von unterlassener Hilfeleistung. Dies betrifft aber leider die Trauerarbeit für Hinterbliebene überhaupt und die Begleitung von Sterbenden insgesamt.

In beiden Büchern wird von der Tabuisierung des Themas ausgegangen. Das ist richtig. Man darf aber nicht übersehen, daß in unserer Gesellschaft der gesamte Bereich des Sterbens als der letzten Lebensphase j e d e s Menschen bis heute mit vielen Tabus versehen ist; nur daß solche Teilgebiete wie Tod durch Verbrechen, Sterbehilfe oder auch der Freitod für die Medien viel interessantere Möglichkeiten der Berichterstattung bieten, weshalb in der Öffentlichkeit darüber heute auch häufiger diskutiert wird als über das „normale” Sterben. Man sollte deshalb nicht vergessen, daß all die hier angesprochenen Probleme der Grenzsituationen der Menschen - des Sterbenden wie der Hinterbliebenen - nicht nur für den Freitod, sondern für jedes Sterben und jeden Tod gelten.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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