Analysen · Berichte · Gespräche · Essays



Initiator, Inspirator, Integrator

Bernd Jentzsch zum 60. Geburtstag
 

27. Jänner 1940. Erster Kriegswinter. Plauen im Vogtland. Noch denkt niemand an Warschau und Ghetto in einem Atemzug. Die Welt hat einen weiteren Sachsen. Später, um vieles später, wird ein Rheinländer kommen, der den siebten Sinn für prägende Begriffe hat - zum Beispiel „Prenzlauer Berg Connection” -, und wird den Anno vierzig Geborenen für die „Sächsische Dichterschule” reklamieren. Am 27. Jänner hat's Mutter Jentzsch geschafft. Der Junge ist da. Nie stellen Mutter und Sohn ihre Beziehung in Frage. Lebensintrigen stellten das Verhältnis wiederholt in Frage, konnten es aber nicht brechen.

27. Januar 2000. Leipzig. Der Sachse ist wieder in Sachsen. Seit Jahren schon. Mutter wäre stolz gewesen. Auch auf den Professor. Der ihm so unlieb nicht ist. Mal, irgendwann mal, muß man auch an die Pension denken. Was wohl eher Professoren- denn Poeten-Art ist. Was ist Bernd Jentzsch eher: Professor oder Poet? Oder ein Professor der Poesie! Gibt's den in Deutschland? Man muß ja nun nicht beweisführend den berühmten Professor für Rhetorik herbeizitieren, der zu Beginn der Neunziger zwei deutsche Kunstakademien unter ein Dach brachte. Professor für Poetik kann man sein in Deutschland. Ist Jentzsch ...? Er ist Direktor eines kleinen Instituts einer großen Universität. Er ist der Chef des Deutschen Literaturinstituts in der Leipziger Wächterstraße. - Das ist einzigartig in Deutschland. - Der Mann ist kein Mann des Amtes, wie sich einer seiner Vorgänger rühmte, als der Vorläufer des Instituts noch den Namen des DDR-Nationaldichters trug, der - erklärtermaßen - kein Institut mit seinem Namen wünschte. Jentzsch ist ein beamteter Poet. Der dem Amt was opferte, wenn? Der Institutskollege Treichel, Hans, führt exemplarisch - Buch um Buch - vor, wie eins mit dem anderen zu vereinen ist. Aber Jentzsch? Er ist im Amt, was er früher, andernorts, in anderen „Ämtern” war. Bernd Jentzsch ist ein Initiator, Inspirator, Integrator. Er ist keiner der lauten, lockeren Fakultät. Das Gewicht der Ernsthaftigkeit macht die Wichtigkeit des Initiators, Inspirators, Integrators. Die Gewissenhaftigkeit und Verläßlichkeit des Bernd Jentzsch meint nicht bedingungslos jedermann. Für schnelle Freundschaften ist er nicht geschaffen. Vielen ist Jentzsch ein kollegialer Freund geworden. Freundschaft hat die meisten Begegnungen - so muß man das sagen - nicht belastet. Unabhängig konnte der Initiator, Inspirator, Integrator couragiert sein. Couragiert sein heißt, sich selbst ansehen zu können. Gefälliges und Gefälligkeiten sind nicht Jentzschs Geschmack. Nicht aggressiver Natur, mußte er stets Strategien und Taktiken entwickeln, um sein Wollen durchzusetzen. Bestimmt vom Wollen, ist der Lyriker im richtigen Alter - vor dem Dreißigsten - der Vater des „Poesiealbums” geworden. In der Hauptstadt der DDR gewachsen, ist das Periodikum für Oberschüler der DDR ebenso zu einem Türöffner zur Weltlyrik geworden wie für bundesdeutsche Gymnasiasten, die, via Bahnhof Friedrichstraße, für Stunden in deutsches Fremdland gerieten. Im „Poesiealbum” gab's reichlich Erstauftritte von Lyrikern der DDR und Lyrikern der Welt in der DDR. Das Herausstellen, Hereinnehmen, Herumreichen war die praktisch publizistische Tat des pragmatischen Initiators, Inspirators, Integrators. Der Preis von neunzig Pfennigen, der Umfang von 32 Seiten, die Ausstattung mit einer doppelseitigen Graphik je Ausgabe, die Klammerheftung, die Typographie und das untypische gestreckte Format machten das „Poesiealbum” zu einer originalen Publikation. So weit man auch schaut, man wird nichts Vergleichbares finden in der deutschen Verlagsgeschichte. Nicht einmal die DDR riskierte es, das Lyrik-Magazin zu liquidieren, als sich der Herausgeber Bernd Jentzsch 1976 öffentlich vom Honecker-Heimatland löste. - Nix. Auch davon nix. Überhaupt nix. Am 27. Januar 2000. Auch nicht im MAGAZIN der folgenden Wochenendausgabe der Hauptstadt-Zeitung. Deshalb an dieser Stelle, wenigstens das. Auch der Fairneß wegen.

Bernd Heimberger


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite