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Zwischen allen Stühlen

Im Gespräch mit dem Herausgeber der Klemperer-Tagebücher
Walter Nowojski
 

Herr Nowojski, Ihre Grabungen in den Steinbrüchen der Erinnerungszettel Victor Klemperers haben, zumindest was die publizierten Ergebnisse betrifft, einen vorläufigen Abschluß gefunden. Um ein Zitat von Heinrich Mann zu variieren: Nicht nur ein Zeitalter, sondern mehrere Zeitalter wurden in diesen einmaligen Tagebuchaufzeichnungen dokumentiert. Die außerordentliche Wirkung der Tagebücher, die alle im Aufbau-Verlag erschienen sind, beruht vor allem in der individuellen und ungeschminkten Sicht des Chronisten auf die von ihm erlebte und erlittene Geschichte. Nach „Curriculum vitae. Erinnerungen eines Philologen 1881-1918”, „Leben sammeln, nicht fragen, wozu und warum. Tagebücher 1918-1932”, „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945” sind im letzten Jahr die Tagebücher von 1945-1959 unter dem Titel „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen” erschienen. Die Titel sind beredt, insbesondere der letztere scheint Klemperers Befindlichkeit besonders eindrucksvoll auszudrücken. Sind Sie hier den Vorgaben des Autors beziehungsweise seinen Intentionen gefolgt oder eigenen Ordnungsprinzipien?

Ich bin den Intentionen des Autors gefolgt. Der Titel der zuletzt erschienenen Tagebücher „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen” drückt tatsächlich eine Befindlichkeit aus, die schon sehr früh bei Victor Klemperer nachzuweisen ist. Er selbst hatte sich mit dem Gedanken getragen, seinem Curriculum vitae, wenn es einmal abgeschlossen sein würde, den Gesamttitel „Zwischen allen Stühlen” zu geben. Das war keineswegs allein auf den letzten Lebensabschnitt gemünzt, auch nicht nur auf seine politische Befindlichkeit oder gar auf seine Eingebundenheit oder Nichteingebundenheit in Deutschland als Jude, sondern ebenso auf sein Leben als Wissenschaftler. Auch als Wissenschaftler sah er sich oft genug zwischen allen Stühlen sitzen. Das begann bereits mit seiner Habilitationsarbeit, in der er sich mit einem Hauptvertreter der französischen Aufklärungsphilosophie, mit Montesquieu, auseinandersetzte, und durchzog, wie den Tagebüchern zu entnehmen ist, sein ganzes Leben.

Kein Wunder, wenn man daran erinnert, daß nach 1870/71 in Deutschland immer noch der seit den napoleonischen Kriegen entstandene Franzosenhaß herrschte.

Wenigen wird heute noch bekannt sein, daß der Begriff Romanistik überhaupt erst nach den napoleonischen Kriegen in Deutschland geprägt worden ist. Vorher war man Professor für französische Sprache und Literatur, italienische Sprache und Literatur oder spanische Sprache und Literatur. Der Begriff Romanist gestattete es, in Zeiten, da es mehr als anstößig war, sich mit der Sprache und Literatur des Erbfeinds Frankreich zu beschäftigen, auf die anderen romanischen Gebiete auszuweichen. 1870/71 herrschte die Losung: „Jeder Stoß ein Franzos”, und 1914 sang man: „Siegreich wollen wir Frankreich schlagen.” Wer in diesen Jahren in Deutschland Professor war, der war - von geringen Ausnahmen abgesehen - kaisertreu, was Franzosenhaß selbstverständlich einschloß. Was sollte man denn sonst gewesen sein, wenn man als Geisteswissenschaftler hinter dem Katheder stand? Für uns heute kaum nachvollziehbar: Es hat immer wieder längere Perioden hindurch keine einzige Vorlesung über französische Literatur an deutschen Universitäten gegeben. Und dann kommt Klemperer gar mit einem französischen Aufklärungsphilosophen, mit Montesquieu. Schon allein damit verstieß er gegen den vorherrschenden Geist. Hinzu kam, daß er im Unterschied zu den meisten seiner Kollegen außer seiner wissenschaftlichen Ausbildung auch eine publizistische, um nicht zu sagen schriftstellerische, hatte. Das prägte seinen bravourösen Stil, der seinen Schriften im Unterschied zu denen mancher Professoren zu großer Publizität und Wirkung verhalf. Die Folge: Seine Kollegen meinten ihn als „Journalisten” verpönen zu müssen, weil seine Darlegungen zur Literaturgeschichte sowohl hochwissenschaftlich als auch angenehm zu lesen waren. Damit nicht genug; er war auch noch Jude. In Deutschland immer noch ein Hindernis für eine Professur an einer Universität. Schließlich war sein Naturell, stets offen und unverblümt seine Meinung zu sagen, seiner beruflichen Entwicklung und wissenschaftlichen Anerkennung ebenfalls nicht förderlich. Von Anfang an saß Klemperer zwischen allen Stühlen.

Während „Curriculum vitae” und „Leben sammeln, nicht fragen, wozu und warum” an ferne, nur noch von wenigen Lesern erlebte Zeiten erinnern, führen uns die nachfolgenden Tagebücher nicht nur in politische Verhältnisse, deren unmittelbare Wirkungen für die Zeitgenossen in vielfältigem Sinne verheerend und bezogen auf die Nachkriegszeit bis heute folgenreich waren und sind, sondern es wächst auch mit jedem fortschreitenden Jahr der Tagebücher die Zahl der Leser, die die dort dokumentierte Sicht auf die Geschichte mit ihren eigenen Erfahrungen messen können. Ganz zu schweigen von den unterschiedlichen Lebenserfahrungen der Leser im geteilten Deutschland. Wie hat das Ihre Arbeit, insbesondere die an den letzten beiden Bänden der Tagebücher, beeinflußt?

Je mehr man in die Gegenwart kommt, um so weniger nützen die vorhandenen Lexikas, denn viele Ereignisse und Personen sind noch nicht erfaßt. Für die Edition der Tagebücher bedeutet dies, daß noch intensiver recherchiert, Quellenarbeit geleistet werden muß. Allein ist dies natürlich nicht mehr zu leisten. Ich fand hervorragende Unterstützung in Christian Löser als Mitarbeiter. Wir kennen uns aus langjähriger redaktioneller Zusammenarbeit. Ich schätze seine Kompetenz und Akribie. Christian Löser hat einen hohen Anteil an dem Ergebnis, insbesondere am Anmerkungsteil. Auf uns lastete zudem der Druck, die abschließenden Tagebücher möglichst schnell - solange Victor Klemperer im Gespräch ist - herauszubringen. Noch komplizierter gestaltete sich der Umstand, daß, je mehr man in die Gegenwart kommt, je mehr in den Tagebüchern vorkommende Menschen noch leben. Da gilt es einerseits, Persönlichkeitsrechte zu wahren, andererseits aber auch, Sorge zu tragen, daß das einzigartige Dokument in seiner detaillierten, minutiösen subjektiven Diktion auch wirklich erhalten bleibt. Wir wollten nicht warten; die Tagebücher Victor Klemperers gerade dieses Zeitraums werden eben jetzt gebraucht. Ihre Wahrhaftigkeit ist einzigartig; sie ermöglichen einen verständnisvollen Zugang zur dargestellten Zeit. Die Reaktionen der Leser bestätigen diesen Eindruck. Möglich war diese Arbeit natürlich nur dadurch, daß die Witwe, Frau Dr. Hadwig Klemperer, darin einwilligte, das noch für einen längeren Zeitraum sekretierte Gesamt-Tagebuch für diese Ausgabe voll zu nutzen. Dieses Vertrauen weiß ich zu würdigen.

Sie verwiesen auf die Reaktion der Leser. Gegenwärtig sind Sie Reisender in Sachen Tagebücher Victor Klemperers. Quer durch Deutschland führt Sie der Weg. Welche Fragen bewegen die Leser und Hörer vor allem, und welche Anregungen bringen die Lesungen Ihnen? Wie unterscheiden sich die Reaktionen zwischen den früheren und den Nachkriegstagebüchern, und welche Unterschiede gibt es zwischen den Lesern aus Ost und West?

Bei den Lesungen der Tagebücher, die den Zeitraum von 1933 bis 1945 umfassen, spürte ich bei den Zuhörern unmittelbar danach jeweils erst einmal Betroffenheit über das Gehörte. Diskussion im Sinne von produktivem Streit über verschiedene Sichtweisen zu dem von Klemperer Beschriebenen gab es nicht. Klemperers Beschreibungen sind so genau, so detailliert, so wahrhaftig, daß eine unmittelbare Auseinandersetzung darüber nicht erfolgte. In dem der Lesung folgenden Gespräch ging es oft nur um einen einzigen Punkt: Haben die recht, die behaupten, man habe von alledem nichts wissen können? Oder ist dies nur eine Rechtfertigung für Wegschauen, für Verdrängung; eine Abkehr von Mitverantwortung? Konnte man damals wirklich soviel wissen? Diese Frage bewegt interessanterweise nicht nur die jüngeren, sondern auch viele ältere Leser. Und ich erzähle dann oft, daß ich während meiner ungezählten Aufenthalte in Dresden, bei denen ich in der Landesbibliothek die Tagebuchaufzeichnungen Klemperers durchgearbeitet habe, immer wieder, ehe ich zurückfuhr, in die Stadt gelaufen bin und ältere Menschen angesprochen habe. Ich habe gefragt: Haben Sie etwas von der Verfolgung der Juden durch die Nazis in Ihrer Stadt gewußt? Und diejenigen, die sich auf ein Gespräch mit mir einließen - das haben ja nicht alle getan, und es ist deren Recht, es zu verweigern -, haben natürlich am Anfang immer gesagt: Nein, nichts! Aber nach einer halben, einer dreiviertel Stunde war es meist soweit: Ach, wenn Sie das meinen, das haben wir natürlich gewußt. Man braucht lange, um Erinnerungen zu wecken,um der Verdrängung zu begegnen. Eine Erfahrung, die ich während vieler Gespräche auch nach den Lesungen bestätigt fand. Genau das leisten die Tagebücher auf eindrucksvolle Weise. Sie helfen erinnern, sie provozieren Erinnern.

Anders der Verlauf und Inhalt der Gespräche bei Lesungen zu den Tagebüchern der Nachkriegsjahre. Da sind viele Teilnehmer der Gespräche Zeitzeugen. Es geht um die eigene Geschichte derer, die im Saale sitzen. Jeder von ihnen hat die Zeit auf seine Weise erlebt und verarbeitet. Der sicher größte Unterschied in der Erfahrung beziehungsweise Beurteilung der Nachkriegsjahrzehnte ergibt sich daraus, ob man West- oder Ostdeutscher ist. Für viele Zuhörer in den neuen Bundesländern ist es eigene erlebte Geschichte. Man muß nicht viel erklären, die Leute finden sich zurecht. Sie haben „nur” zu überlegen, ob sie mit den Ansichten Victor Klemperers übereinstimmen oder nicht. Aber die Gegenstände, die behandelt werden, sind ihnen bekannt. Und da erlebe ich sehr oft, daß viele die innere Zerrissenheit dieses Mannes sehr wohl begreifen, weil sie sie an sich selber erfahren haben. Victor Klemperer wollte sich aufgrund seiner Erfahrungen nicht länger heraushalten aus den politischen Geschicken. Er wollte mithelfen, endlich ein anderes, ein venünftiges, ein humanes, ein gesundes Deutschland aufzubauen. Er meinte, mit seiner Entscheidung für den Osten das kleinere Übel gewählt zu haben, und mußte erfahren, daß das kleinere Übel auch ein Übel war und daß es ein wachsendes Übel war, daß er sich immer weniger in Übereinstimmung bringen konnte mit dem, was in diesem Lande alles geschah, aber keinerlei Alternative sah; denn der Versuch, auf der anderen Seite neue Verhältnisse zu schaffen, ohne den Austausch belasteter Personen aus den Eliten aller Ebenen, war für diesen Mann nach diesem Schicksal unannehmbar. Das sieht aus der Sicht der Westdeutschen meist anders aus. Vieles, was da über die Entwicklung in Ostdeutschland, später in der DDR, berichtet wird, ist ihnen fremd, unverständlich. Und doch sind auch sie meist fasziniert von Klemperers Sicht auf die Dinge dieser Zeit, weil sie hier detailliert, genau, wahrhaftig über das Leben eines Intellektuellen informiert werden, dessen Menschlichkeit für sie einen wichtigen Zugang zum Verständnis der Geschichte bedeutet. Es wird noch sehr lange dauern, bis Historiker ein zutreffendes Bild der jüngsten Vergangenheit zeichnen werden; hier aber hat einer unmittelbar „gelebte Geschichte” geschrieben. Dabei geht es den meisten Lesern und Gesprächsteilnehmern nicht vordergründig darum, ob und in welchen Punkten man Klemperer zustimmen kann oder nicht. Ein Mensch, der im Augenblick niederschreibt, was er gerade empfindet, kann irren. Und Klemperer irrte oft. Aber es fasziniert die Authentizität des Dokuments, die Biographie eines Menschen in ihrer Genauigkeit, mit allen Irrtümern, mit allem, was menschliches Denken und Fühlen umfaßt. Und viele Menschen - wenn sie ehrlich sind - werden zugeben müssen, daß da Gedankenblitze auftauchen, die auch in ihren Köpfen waren, die sie aber nie niederschreiben würden. Das halte ich für etwas ganz Wichtiges, und ich glaube auch, daß dies wesentlich zum Erfolg der Tagebücher beigetragen hat. Wer so über sich selber redet, wer so ehrlich seine eigenen Unzulänglichkeiten aufschreibt, dem glaubt man, von dem läßt man sich etwas erzählen. Leser haben ein feines Gespür dafür, wer das ist, der einem da etwas erzählt. Das ist nicht die einzige Ursache des Erfolges; aber es ist eine wesentliche.

Auffällig an den Tagebüchern nach 1945 ist, daß Klemperer sich schon sehr früh mit Zweifeln darüber plagte, ob das, was sich in der sowjetischen Besatzungszone und später in der DDR herausbildete, seinen Idealen entsprach. Sicher war das auch seiner bürgerlichen Herkunft und seiner liberal geprägten Wissenschaftsauffassung geschuldet. Gleichzeitig spürt man an vielen Stellen, daß seine Zweifel an dem „System” auch mit seiner Sorge um die eigene wissenschaftliche Karriere, um die öffentliche Reputation verknüpft waren. Wie ein roter Faden durchzieht die Tagebücher nach 1945 Klemperers Bemühen um eine ordentliche Professur an einer „richtigen” Universität, die Akademiemitgliedschaft usw. und die verständliche Angst, daß die Lebenszeit - er war 1945 schon 64 Jahre alt - für all seine Vorhaben zu kurz bemessen ist. Was hat bei seinen Sorgen und Ängsten überwogen?

Victor Klemperer ist bis zum Schluß ein im guten Sinne des Wortes bürgerlicher Professor geblieben. Er war ein Freisinniger, er war ein Vertreter des Liberalismus. Von daher urteilte er, darin wurzelte seine zunehmende Skepsis. Dabei ist es gleich, ob er Wahlvorgänge beurteilte, Fragen von Demokratie, oder ob es um wissenschaftliche Grundüberzeugungen ging: Er mußte in Kollision geraten mit dem, was er vorfand und erlebte. Das ist das eine. Das zweite ist, daß Klemperer davon überzeugt war, ein wissenschaftliches Werk zu besitzen, das er vollenden und in gültiger Form vorlegen wollte. Bedenken Sie: Ihm waren die wichtigsten Jahre seines Arbeitslebens gestohlen worden, und das wollte er nachholen. Hieraus erklärt sich auch seine Unrast. Er ist vor Intrigen nicht zurückgeschreckt, um Positionen zu erhalten, die notwendig waren, um das, was er vollenden wollte, wirklich zu erreichen. Er wollte sich Freiräume schaffen. Hinzu kam, daß er in irgendeiner Weise seine Dankbarkeit bekunden wollte dafür, daß er lebte, dafür, daß ihm ein zweites Leben geschenkt worden ist. Ihm war bewußt, wer die meisten Opfer gebracht hatte, damit Deutschland befreit wurde. Und so fühlte er sich besonders denen zu Dankbarkeit verpflichtet, denen er immer kritisch gegenübergestanden hatte. Bolschewismus war für ihn in den Weimarer Jahren etwas, das ihn mehr das Fürchten als Hoffen lehrte. Diesen Konflikt zwischen Skepsis und Dankbarkeit versuchte er, so ehrlich und so echt wie möglich zu lösen. Seine Tagebuch-Aufzeichnungen legen darüber beredtes Zeugnis ab. Allerdings darf man nicht übersehen, daß er natürlich in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen besonders das Kritische festgehalten hat. Im Tagebuch hat Victor Klemperer seinen Frust abgeladen, damit er am nächsten Tag vor seine Studenten treten und Hoffnung ausstrahlen konnte. Das ist für mich etwas ganz Entscheidendes. Wer die Tagebücher liest und aufgrund der genauen und detaillierten Darstellung meint, nun kenne er den ganzen Klemperer, der irrt. Wir jungen Studenten nach dem Kriege haben einen ganz anderen Victor Klemperer kennengelernt. Uns hat ein ganz anderer Klemperer begeistert. Nämlich ein alter, im ersten Augenblick gebrechlich erscheinender Mensch, der, sobald er hinter dem Katheder stand und seine Studenten vor sich sah, jung, fröhlich und verschmitzt war, voller Esprit, vom Geiste Voltaires gespeist und, da er wirklich von der französischen Aufklärung herkam, uns auch den Zweifel als wichtige Kraft der Erkenntnis lehrte. Er war uns immer Hoffnung. Aber erst beim Entziffern der Tagebücher habe ich begriffen, daß es umgekehrt genauso war: Wir waren ihm auch Hoffnung. Es war für ihn ganz wichtig, wieder vor jungen Menschen stehen zu können.

Klemperer wollte mit seinen Zetteln, denen er über Jahrzehnte seine Erlebnisse und Gedanken anvertraute, Leben sammeln, Zeugnis ablegen, das heißt, die Tagebücher waren vorrangig nicht zur Selbstverständigung, sondern für die Veröffentlichung gedacht. Sie mußten aufgehoben und in gefährlichen Zeiten bewahrt werden. Waren nach 1945 solche Ängste ausgestanden?

Diese Ängste bestanden für Victor Klemperer offensichtlich nur in den Nazijahren. Da war vollkommen klar, was für eine Sprengkraft diese Aufzeichnungen besitzen. Es war nicht nur ihm, es war allen klar, die davon in irgendeiner Weise berührt waren. Die Leidensgenossen im Judenhaus wußten ja, daß er Tagebuch schreibt; sie bestärkten ihn darin, es weiter zu tun. Seine Frau Eva brachte die beschriebenen Blätter vor der Gestapo in Sicherheit. Jeder war sich der Gefahr bewußt, auch die befreundete Ärztin Dr. Annemarie Köhler in Pirna, auf deren Dachboden Klemperers Manuskripte versteckt wurden. Alle waren sich der Bedeutung des Aufgeschriebenen bewußt. Keiner riet Klemperer, das Notieren aufzugeben. In den Jahren nach dem Kriege war es anders. Er hat wie immer Tagebuch geschrieben, hat es bei sich aufbewahrt. Es gibt in den Tagebüchern keine Zeile, wo er über die Gefahr dieser Tätigkeit nachdenkt. Hätte er Angst vor einem fremden Zugriff gehabt, hätte er darüber geschrieben. Die Tagebuchzettel blieben auch nach seinem Tod 1960 im Haus. Erst als die Witwe, Frau Dr. Hadwig Klemperer, das Haus in Dölzschen aufgab und in eine Stadtwohnung zog, war für all diese Dinge kein Platz mehr. Da tat sie etwas, das sehr im Sinne Victor Klemperers war: Sie gab Ende der siebziger Jahre den Nachlaß an das Archiv der Landesbibliothek Dresden. „Im Japanischen Palais” (bis zur Zerstörung Dresdens Sitz der Landesbibliothek) „saß ich wie die Made im Speck”, beschrieb Klemperer seinen liebsten Ort in Dresden. In dem Provisorium in der Marienallee nahm sich ein Mitarbeiter dieses Nachlasses an, der als junger Referendar miterlebt hatte, wie Klemperer das letzte Mal zum Japanischen Palais kam und die Herren Bibliotheksräte aus dem Fenster schauten und einer vom anderen erwartete, daß er nach unten gehen und ihm sagen würde, daß ihm, dem geschätztesten Leser, die Bibliothek in Zukunft verschlossen bleibt. Dieser ehemalige Referendar begann sofort und in großer Exaktheit ein Findbuch herzustellen, nach dem man heute wunderbar arbeiten kann. Die gesamten Tagebücher waren bereits 1978, als ich am Nachlaß zu arbeiten begann, geordnet und jedermann zugänglich. Sekretiert waren allein die Tagebücher ab 1952, das heißt, ab dem Zeitpunkt, da die junge Hadwig Klemperer in das Leben Victor Klemperers getreten ist. Sie wünschte, daß, solange sie lebt, eine Reihe von Tagebuchaufzeichnungen aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen sekretiert bleibt.

Nach dem großen Erfolg der Tagebücher 1933-1945 war man gespannt auf die Tagebücher nach 1945. Ich kann mich entsinnen, daß es nicht wenige Verheißungen gab hinsichtlich der sensationellen Enthüllungen, die man dann lesen wird über den Klemperer, der von der einen Verfolgung in die andere kam. Wird man da als Herausgeber unter Druck gesetzt, eine bestimmte Erwartungshaltung zu berücksichtigen?

Nein. Ich halte mich an die Tagebücher und nicht an irgendwelche „Erwartungshaltungen”. Natürlich war ich über manche „Vorabinformation”, die in keinem Falle von der Kenntnis des Niedergeschriebenen getrübt war, verwundert. In Dresden zum Beispiel wurde eine Klemperer-Konferenz unter dem Titel „Leben in zwei Diktaturen” veranstaltet, natürlich ohne die Tagebücher der Nachkriegsjahre zu kennen, als sei Klemperer nicht im deutschen Kaiserreich geboren, als sei er vom Antisemitismus der Weimarer Jahre unberührt geblieben. Ich selbst hatte zu diesem Zeitpunkt die Arbeiten an den Nachkriegs-Tagebüchern abgeschlossen und konnte mich über die „Mutmaßungen” nur wundern. Genauso war es mit dem „Spiegel”, der einen Kulturbundvortrag Victor Klemperers zum Anlaß nahm, das Bild des glühenden Stalinisten Klemperer zu entwerfen, dabei nur übersah, welche Funktion diese Rede Victor Kemperers in seinem Bemühen gehabt hat, die in seinem Tagebuch systematisch weitergeführte Forschung der Verschluderung der deutschen Sprache durch die Funktionäre öffentlich zu machen. Ein einziges Mal ist ihm dies gelungen, nämlich in jenem Kulturbundvortrag. Solche Versuche, Urteile, besser Vorurteile ohne gründliche Sachkenntnis zu fällen, haben meinen Freund Christian Löser und mich eher amüsiert, keinesfalls haben sie unsere Arbeit tangiert. Außerdem: Wenn man über so viele Jahre so intensiv in das Leben und die Zeit Victor Klemperers eintaucht, wie ich es getan habe, läßt man sich nicht mehr beirren.

Herr Nowojski, Sie haben Klemperer noch persönlich als Hochschullehrer kennengelernt. Sie waren fasziniert von Klemperers Vortrag, von einem Lehrer und Wissenschaftler, der einen unauslöschlichen Eindruck hinterließ. Sie sind tief in sein Leben eingedrungen. Sie beschäftigen sich jetzt über zwanzig Jahre mit dessen Tagebuchnotizen und haben eine Auswahl davon veröffentlicht. Inwieweit kann sich der Herausgeber hier von einer Befangenheit frei machen, die sich nach einer solchen Zeit naturgemäß einstellt?

Als ich die Arbeit an den Tagebüchern aufnahm, habe ich begonnen, ein Denkmal zu bearbeiten. Das war er für mich. Aber im Zuge dieser Arbeit ist aus dem Denkmal immer mehr ein Mensch geworden, und ich kann nicht sagen, daß ich darunter sehr leide. Ich gehe natürlich viel lieber mit Menschen um als mit Denkmälern. Außerdem macht Klemperer es einem leicht, ein kritisches Verhältnis zu ihm zu finden, denn er selbst legt sein Innerstes offen. Man kann fasziniert sein, wie man will, es ist überhaupt nicht möglich, alles positiv zu finden, was dieser Mann dachte, tat, empfand. Die wichtigste Lehre, die mir durch meine Arbeit an den Tagebüchem erteilt wurde, ist die: Du mußt Menschen nach ihren Biographien beurteilen, niemals nach theoretischen Vorstellungen darüber, wie ein Mensch sein soll oder nicht. Du mußt Menschen aus ihrer Biographie verstehen lernen. Klemperer hat mir doch die einmalige Möglichkeit geboten, das Leben eines Menschen von der Kindheit bis zum Tode minutiös verfolgen zu können. Warum er sich so und nicht anders verhielt, warum er eine Sache so und nicht anders bewertete, alles das wird einem plausibel. Der ganze Mensch wird einem plausibel. Ich laufe nicht Gefahr, Victor Klemperer zu benoten, sondern ich kann ihn verstehen, was nicht heißt, daß ich alles billige, was er dachte und tat. Aber ich kann es begreifen.

Sie standen also nie vor der Situation, das veröffentliche ich oder das veröffentliche ich nicht?

Das ist etwas anderes. Natürlich hatte ich 4 000 Seiten vor mir, von denen maximal 1 700 in die Ausgabe aufgenommen werden konnten. Und nach zwanzigmal Lesen immer noch nicht zu wissen, was nimmst du weg und was nicht, ist schon belastend. Die Verantwortung, beim Kürzen darauf zu achten, daß wirklich alle Momente, die bei Klemperer eine Rolle spielen, auch erhalten bleiben, sowohl im Privaten als auch im Politischen und Wissenschaftlichen, ob positiv oder negativ, ist groß. Trotzdem glaube und hoffe ich, daß wir diese Schwierigkeit gemeistert haben. In den vielen Lesungen, die ich hatte, kommt ja auch ein Echo direkt auf mich zurück. Und da ist viel von Dank für geleistete Arbeit die Rede.

Daß es daneben noch das wichtige Problem des Persönlichkeitsrechts gibt, versteht sich von selbst. Und daß ein Herausgeber manchmal mehr möchte, als möglich ist, versteht sich auch. Aber das ist von Fall zu Fall ganz individuell zu entscheiden. Und außerdem: Zum Voyeuristen tauge ich nicht. Für die Regenbogenpresse wäre ich unbrauchbar.

Die Tagebücher sind - soviel läßt sich jetzt schon sagen - ein verlegerischer Erfolg. Der bisher größte in der Geschichte des Aufbau-Verlages? Wie hoch sind die Auflagen im In- und Ausland? In wie viele Sprachen sind die Tagebücher bisher übersetzt worden und welche weiteren Übersetzungen sind geplant? Werden sie in Israel erscheinen? Im letzten Jahr erfolgte eine Verfilmung der Tagebücher von 1933 bis 1945, wie schätzen Sie die Werktreue ein?

Allein die Tagebücher der Jahre 1933-1945 sind bisher in Deutschland in einer Auflage von 320 000 Exemplaren herausgekommen. Wenn man überlegt, zwei dicke Bände, 128 DM - zum Glück liegt jetzt auch die wesentlich preiswertere Taschenbuchausgabe vor - und dabei die Genugtuung: Sie landen nicht in den Regalen, sie werden gelesen. Das ist meine Erfahrung bei den vielen, vielen Lesungen. Die Leute kommen nicht und lassen sich da etwas vorlesen, sondern sie hören es wieder, wenn ich es vorlese. Das ist gewaltig. Und dazu kommen nun die anderen Tagebuchausgaben. In wenigen Monaten wurde bereits eine ansehnliche Auflagenhöhe der Nachkriegstagebücher erreicht, die natürlich nicht vergleichbar mit der der Nazizeit ist. Auch das internationale Interesse wächst. Dafür sprechen die sehr früh erschienene holländische sowie die englische und amerikanische Ausgabe. In diesem Jahr werden die Tagebücher in Italien und in Frankreich erscheinen. Eine kleine Ausgabe existiert in Japan; und hinzu kommt der Vertrieb der deutschen Ausgaben im Ausland. Es gibt im Ausland natürlich sehr viele Leser, die die deutsche Ausgabe bevorzugen. Das trifft auch auf Israel zu. Leider gibt es in Israel keine hebräische Ausgabe, was sicher mit der militanten antizionistischen Haltung Victor Klemperers zu tun hat. Aber ich weiß, daß die Tagebücher in Israel von den ehemaligen Emigranten viel gelesen werden. Und schließlich gibt es die Verbreitung dieser Tagebücher auf unterschiedlichste andere Weise. Sehr schnell entstand eine Hörspiel-Fassung von Klaus Schlesinger mit Udo Samel. Kurze Zeit später erfolgten die Lesungen im Norddeutschen Rundfunk, die weitergehen werden. Der großartige Rolf Boisen, der in diesem Jahr 80 Jahre alt wird, hat sich in den Kopf gesetzt, alle Tagebuchteile und auch die Autobiographie in Fortsetzungen zu lesen. Ich bin gerade damit befaßt, das für ihn vorzubereiten. Dann gab es zunächst einen Dokumentarfilm von Ullrich Kasten und Wolfgang Kohlhaase, an dem ich mitgearbeitet habe. Ein eindrucksvoller Film. Gegenwärtig entsteht ein zweiter zu den Nachkriegstagebüchern. Im vergangenen Jahr dann die Fernsehserie zu den Tagebüchem der Nazizeit, die natürlich auch wieder einen großen Zuschauerkreis hatte, wenngleich nicht so groß wie geplant. Dabei tut es dann wenig zur Sache, wie ich selber zu diesem Film stehe. Zunächst erst einmal erreicht er einen großen Zuschauerkreis von Leuten, die vielleicht nie auf die Idee gekommen wären, die Tagebücher zu lesen. Von denen hört man dann manchmal positive Urteile. Natürlich erlebe ich immer wieder, daß vor allen Dingen diejenigen, die die Tagebücher gelesen haben, eine andere Haltung zu diesem Film einnehmen, was mir sehr verständlich ist.

Die äußerst kritische Haltung dieser Leser kann ich nachvollziehen. Das Medium Fernsehen arbeitet natürlich mit spezifischen Mitteln, doch die Geschichte Klemperers und die Abläufe seiner Zeit scheinen nicht immer werkgetreu und zeitgeschichtlich exakt nachvollzogen. Sind Sie als Berater hinzugezogen worden?

Nein. Das Selbstbewußtsein derjenigen, die diesen Film gemacht haben, war groß genug, um andere nicht zu brauchen. Ich bin informiert worden, als der Film abgedreht war. Aber ich habe den Film gesehen. Na ja, ich bin erschrocken.

Ich weiß natürlich, daß die Umsetzung einer Tagebuch-Vorlage nicht eine Kopie der Tagebücher sein kann, daß der Film eigenen Gesetzen folgt. Das muß man mir nicht erzählen. Aber so, wie Rilke es über Auguste Rodin beschreibt, der - ehe er Hammer und Meißel genommen und eine bildhauerische Arbeit begonnen hat - zunächst immer um den Stein, aus dem er etwas erschaffen wollte, herumlief, klopfte und fragte: Was ist im Stein, was braucht der Stein?, genauso ist es notwendig, eine Vorlage für einen Film danach abzuklopfen: Was ist im Stoff, was braucht der Stoff? Mir scheint, man hat überhaupt nicht begriffen, worin die Einmaligkeit dieses Stoffes besteht. Der Szenarist hat verlautbart, er habe viel von seiner Mutter in die Figur der nichtjüdischen Ehefrau Klemperers einbringen müssen, da Eva Klemperer im Tagebuch keine Persönlichkeit entwickle. Abgesehen davon, daß das Unsinn ist, hätte der Szenarist nur Curriculum vitae, die von Victor Klemperer im Judenhaus aus den Tagebüchern der Jugendzeit herauskristallisierte Autobiographie seiner Jugend, zu lesen brauchen, dann hätte er mitbekommen, wie ausführlich, genau und intensiv Victor Klemperer über Eva Klemperer geschrieben hat. Da gibt es ganze Kapitel. Es kommen andere Dinge hinzu, die mich einfach erbosen. 1985 hatte man in Altenburg Henry Schmidt, den „Eichmann von Dresden”, den Gestapo-Mann, gefaßt, der für die Durchführung der „Endlösung” verantwortlich war. Man hatte ihn in ganz Europa gesucht, nur nicht dort, wo er zurückhaltend lebte. 1987 wurde ihm in Dresden öffentlich der Prozeß gemacht. Ich hatte damals Urlaub genommen und war nach Dresden gefahren, weil ich mir, vor allem über die Täter, viele Informationen für meine Arbeit erhoffte. Ich weiß also genau, wie die Dresdner Peiniger hießen: Schmidt, Müller, Köhler, Weser, Clemens. Alles „deutsche” Namen. Und im Film heißt der Täter plötzlich Malachowski! Ungeheuerlich! Ich unterstelle nicht, daß der Szenarist das bewußt getan hat, ich unterstelle Schlimmeres: Daß es im Unterbewußtsein lebt. So etwas macht ein Deutscher nicht! Das muß ein Malachowski sein. Das ist nun nicht mehr nur bedauerlich. Und wenn ich dann eben lese, daß es hochkarätige historische Berater gab, Professor Dr. Eberhard Jäckel zum Beispiel, dann frage ich mich, wo die hingeschaut haben, und muß zu dem Schluß kommen, daß sie nur ihren Namen gegeben und kassiert haben; denn es stimmt historisch nichts in diesem Film, kein Milieu, keine Uniform - nichts.

Noch eine Ungeheuerlichkeit: Victor Klemperer war ein Mann des 19. Jahrhunderts, ein in gutem Sinne des Wortes bürgerlicher Professor. Dementsprechend waren seine Auffassungen von Ethik und Moral. Im Film schickt der Szenarist diesen Mann, der obendrein immer ein schlechtes Gewissen seiner Frau gegenüber hat, weil er sich als Jude schuldig fühlt, daß sie so viele Bedrohungen auf sich nehmen muß, nach Berlin, wo er sich - „halb zog sie ihn, halb sank er hin” - über ein blondes Mädchen hermacht. Eva wird sich später revanchieren. Unglaublich. Gerade diese Szene zeigt, daß es bei der Arbeit vor allem darauf ankam, eine hohe Quote zu erreichen. Und dafür mußte eine Seifenoper her. Als habe es die Leistungen der Fechner, Monk und manches Filmemachers im Osten nie gegeben. Welch eine Chance wurde hier vertan!

Der Vorzug der Tagebücher ist - das belegen auch die Reaktionen auf den Film -, daß sie nicht nur gekauft, sondern auch gelesen werden. Sie haben ja anfangs schon über die Empfindungen und Reaktionen gesprochen, die Sie erreichen in Veranstaltungen und Gesprächsrunden. Gibt es eigentlich auch - Tagebücher sind ja Schriftstücke - von Lesern schriftliche Äußerungen, oder ist das völlig aus der Mode gekommen?

Zum Glück nicht. Ich besitze mehr als 2 000 Briefe unterschiedlichster Art. Das sind Briefe von Menschen, die in Lesungen gehen und deren Naturell es nicht ist, sich in der Veranstaltung zu melden und dort einen Beitrag zu leisten beziehungsweise eine Frage zu stellen, sondern sich später schriftlich zu äußern. Manchmal ist es einfach ein Dank an die Herausgeber für die enorme Arbeit, die sie geleistet haben. Meist jedoch schreiben sie von ihren eigenen Erlebnissen in dieser Zeit und bereichern das Verständnis der Tagebücher um wichtige Mosaiksteine. Sehr bewegt bin ich von den Fragen, Meinungen und auch Briefen, die mich nach Veranstaltungen in Gymnasien von den Schülern und Lehrern erreichen. Es ist hochinteressant, daß am Ende solcher Schülerveranstaltungen immer wieder die Frage an mich gestellt wird, die die Schüler eigentlich an sich selbst stellen: Warum hat Oma mir nichts davon erzählt? Oder: So wie Sie hier erzählen, müßte sie doch auch etwas davon wissen. Das sind ganz wichtige Fragen, die mich ermuntern weiterzumachen und mir zeigen, daß die Mühe nicht umsonst gewesen ist.

Sie sprechen vom Weitermachen? Ist die Arbeit an den Erinnerungen Klemperers beendet, oder gibt es noch ein „Nachspiel”, zum Beispiel die Veröffentlichung der Leserbriefe?

Die Arbeit an den Hinterlassenschaften Victor Klemperers wird nie zu Ende sein. Das geht nicht mehr, das kann man nicht abdrehen. Dieser Mann wird mich immer beschäftigen in unterschiedlichster Weise. Ich möchte ganz gern noch seinen Briefwechsel herausbringen. Das liegt auch im Interesse des Verlages.

Wie viele Briefe sind das?

Das sind so wenige nicht. Es sind einige Hundert. Aber die Problematik besteht natürlich darin, daß von vor 1945 wenig erhalten geblieben ist. Mir geht es gar nicht darum, allein die Briefe Victor Klemperers, sondern auch die Briefe an ihn abzudrucken, um dem Leser die Möglichkeit zu schaffen, auch einmal die andere Seite zu hören. Es gibt ja leider keine Tagebücher von Eva Klemperer. Das wäre interessant gewesen, denn - bei aller Authentizität - die Tagebücher sind das subjektive Bild des Verfassers, einer Sicht. Man möchte doch gern einmal eine Gegenreaktion haben, und die findet man natürlich im Briefwechsel. Es sind noch eine ganze Reihe von Briefen erhalten geblieben. Briefe des Bruders Georg und dessen Kinder, die in die Emigration gegangen sind, die also in Sicherheit waren und ein etwas anderes Bild vermitteln. Victor Klemperer beklagt sich oft darüber, daß niemand an ihn denkt, daß die Familie ihn abgeschrieben habe. So mußte es ihm in der Abgeschlossenheit erscheinen. Aber es ist nicht zutreffend. Die Familie hat sehr viel unternommen, hat stets versucht, ihn umzustimmen, daß auch er endlich emigriert, solange es noch möglich war. Sie war bereit, für ihn in der Fremde zu sorgen. Aber genau das wollte er nicht - aufgrund seiner Biographie. Ein Briefband also, ein wichtiges Vorhaben.

Und dann geht mir natürlich der Gedanke nicht aus dem Kopf, daß es für die zukünftige wissenschaftliche Arbeit der Historiker - und nicht nur der Historiker - ganz wichtig wäre, die Gesamtheit der 5 000 Handschriftenseiten der Jahre 1933-1945 aufzuarbeiten. Wenn der Satz stimmt, den ich da immer wieder lesen kann: Von nun an kann kein Wissenschaftler mehr ohne die Kenntnis der Tagebücher Victor Klemperers ernsthaft über die Zeit des Nationalsozialismus arbeiten - und ich glaube, daß der Satz stimmt -, dann ist es ganz notwendig, diese Arbeit zu leisten. Und da mich der Gedanke nicht losläßt und weil ich Klemperers Handschrift inzwischen wie meine eigene lese, möchte ich diese 5 000 Seiten gern dokumentengerecht auf eine CD-ROM übertragen, damit die Tagebücher so authentisch wie möglich für die Wissenschaft zur Verfügung stehen. Und alles das, was in meinen Kopf inzwischen an zusätzlichen Informationen und Erkenntnissen eingeflossen ist, soll dann in einem wissenschaftlichen Apparat beigegeben werden. Aber das muß organisiert werden, das kostet Geld, und Zeit kostet es auch. Es ist insofern Eile geboten, als ich nicht weiß, wie viele Jahrzehnte Arbeit mir noch zur Verfügung stehen.

Die kann man Ihnen nur wünschen. Vielen Dank!

Das Gespräch führte Hans-Jürgen Mende


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 03/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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