Annotation von Horst Wagner


 

Roy, Arundhati:
Das Ende der Illussion
Politische Einmischungen.
Aus dem Englischen von Wolfgang Ströle.
Karl Blessing Verlag, München 1999, 160 S.

 

„Wenn es einen Atomkrieg gibt, heißt unser Gegner nicht China oder Amerika oder Pakistan. Unser Gegner ist dann der ganze Planet. Die Elemente selbst - der Himmel, die Luft, die Erde, der Wind und das Wasser - werden sich gegen uns wenden, und ihr Zorn wird furchtbar sein.” Eindringliche Worte einer großen Schriftstellerin zu einem Thema auf Leben und Tod. Die Inderin Arundhati Roy, deren Roman Der Gott der kleinen Dinge 1997 ein Welterfolg wurde, hat sich mit der ganzen Kraft ihres Namens und ihres Talents diesmal in die Politik eingemischt. Sie setzt sich in den beiden hier vereinten großen Essays mit Illusionen auseinander, die von bestimmten politischen Kräften ihres Landes geschürt werden: dem Bau des Narmada-Staudamms und der Entwicklung der indischen Atombombe, die beide für die Macht und die Zukunft Indiens stehen sollen, ihm aber unermeßlichen Schaden zufügen würden.

„... dann ertrinken wir eben”, ist der erste Teil ihres Buches überschrieben. In dramatischen Bildern schildert Roy den nun schon zehn Jahre dauernden Kampf ungezählter Inderinnen und Inder gegen ein Projekt, das - wie sie nachweist - 4 000 Quadratkilometer Land unter Wasser setzen, die Umsiedlung von mindestens 200 000 Menschen notwendig machen und zur Zerstörung der Lebensgrundlagen der Adivasi, einer nationalen Minderheit, führen würde, deren Kultur älter ist als der Hinduismus. Die Autorin zeigt anhand vieler Zahlen und Fakten, daß solche großen Staudämme weder die Trinkwasser- noch die Energieversorgung verbessern, dagegen aber schlimme Auswirkungen auf das ökologische Gleichgewicht haben würden. Und sie kommt zu dem Schluß: „Heute steht das Wesen unserer Demokratie auf dem Prüfstand. Wem gehört dieses Land? Wem gehören seine Flüsse? Seine Wälder? Seine Fische?”

In dem zweiten, dem titelgebenden Essay „Das Ende der Illussion”, setzt sich die Autorin mit Vorgeschichte, Verlauf und möglichen Folgen der indischen Atombombenversuche in der Wüste Thar vom Mai 1998 auseinander. Sie widerlegt die These, die Bombe sei notwendig, weil Indien bedroht werde; das Land brauche die Bombe, um seine Größe zu demonstrieren. Sie nennt die indischen Atombombenprojekte den „endgültigen Verrat einer herrschenden Klasse an ihrem Volk”. Wahr bleibe, „daß es viel leichter ist, eine Bombe zu bauen, als 400 Millionen Menschen Lesen und Schreiben beizubringen”, wobei sie sich auf die Zahl der indischen Analphabeten bezieht. Arundhati Roys Buch ist politische Publizistik von literarischem Rang. Man könnte sich vorstellen, daß zumindest in dem ersten Essay, dem Narmada-Thema, der Stoff zu einem neuen großen Roman aus ihrer Feder steckt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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