Annotation von Wolfgang Buth


 

Liersch, Werner (Hrsg.):
Die Kraft der Empfindlichkeit
Essays 1949 bis 1990.
(Die DDR-Bibliothek. Bd. 16.)
Verlag Faber & Faber, Leipzig 1998, 432 S.

 

Die DDR-Bibliothek des Verlages Faber & Faber Leipzig hat sich die Aufgabe gestellt, wichtige literarische Werke der DDR zu bewahren. Dazu zählen neben Einzelveröffentlichungen wie Johannes R. Bechers Aufstand im Menschen, Werner Heiduczeks Tod am Meer, Erik Neutschs Spur der Steine und Christa Wolfs Der geteilte Himmel zwei Bände Erzählungen (Damals. In einem nahen fernen Land. Erzählungen aus der DDR 1949-1969; Hier und dort. Neulich vor langer Zeit. Erzählungen 1970-1990) und nun - als Band 16 - die Sammlung Die Kraft der Empfindlichkeit. Essays 1949 bis 1990.

Der Herausgeber Werner Liersch gab mit Bedacht seiner Essaysammlung den Titel Die Kraft der Empfindlichkeit nach dem gleichnamigen Essay von Werner Creutziger. Ist doch der (oder auch das) Essay im Gegensatz zur streng wissenschaftlichen Untersuchung die treffsichere, aber nicht notwendig erschöpfende Prosaabhandlung über ein bestimmtes Thema in eleganter, geistreicher Form. Die Verfasser von literarischen Aufsätzen und Essays hatten es in der DDR nicht einfach, wie es Stefan Heym 1965 im Essay „Die Langeweile von Minsk” treffend ausdrückt: „Ich wüßte heute kaum ein Land zu nennen, das ohne Tabus wäre; der Schriftsteller muß diese beachten oder muß, wenn er das nicht zu tun gewillt ist, sich dauernd fragen: Werde ich meine Sache gedruckt bekommen oder nicht? Und es sind gerade diese Tabus, die das Schreiben der Wahrheit, die den Realismus stören. Die Tabus ... bleiben ein Hindernis für den Schriftsteller, der ein getreues Bild der Menschen und seiner Zeit und ihrer Konflikte zu geben wünscht. Es ist, als wollte man eine Fotografie aufnehmen und jemand hielte einem drohend den erhobenen Finger direkt vor die Linse der Kamera.” Dieser aussagekräftige Essay von Stefan Heym konnte 1965 in der DDR nicht erscheinen, nur in der Kulturzeitschrift „Kulturni Zivot” („Kulturleben”) in Bratislava/CSSR - im „sozialistischen Ausland”. Erst 1990, als mit der Mauer (fast)alle Tabus gefallen waren, konnte Heym seinen Essay „Die Langeweile von Minsk” in einem Band politischer Publizistik Stalin verläßt den Raum im Leipziger Reclam-Verlag veröffenlichen.

Die Essaysammlung enthält 25 Aufsätze; sie reichen u. a. von Ernst Niekisch („Zum Problem der Elite”), Gerhard Zwerenz („Leipziger Allerlei”) und Georg Maurer („Kleines ästhetisches Bekenntnis”) über Christa Wolf („Lesen und Schreiben”), Anna Seghers („Die DDR und ihre Schriftsteller”) und Günter Kunert („Auf der Suche nach dem verlorenen Selbst oder: Was ist des DDR-Deutschen Vaterland”) bis zu Erich Loest („Zwiebeln für den Landesvater”), Rolf Schneider („Die deutsche Nation als Gefühl”), Peter Hacks („Unter den Medien schweigen die Musen”) und Helga Königsdorf („Was bleibt von der DDR-Literatur?”). Diese und andere Essays erschienen entweder in den DDR-Zeitschriften „Sinn und Form”, „Neue deutsche Literatur” und im „Sonntag” oder in den Werkausgaben der Schriftsteller. Wenn sie nicht in der DDR erscheinen konnten, fand sich im „Spiegel”, in der „Zeit” und in der „Süddeutschen Zeitung” oder (wie bei Stefan Heym) in der Zeitschrift „Kulturni Zivot” Platz zur Veröffentlichung.

Das Verdienst Werner Lierschs besteht darin, diese „versprengten” Aufsätze und Essays zusammengetragen und mit Kurzbiographien, Auswahlbibliographien und Quellennachweisen versehen zu haben. Der Sammelband Die Kraft der Empfindlichkeit. Essays 1949-1990 enthält 25 interessante, kraftvolle u n d empfindsame Aufsätze von Schriftstellern eines untergegangenen Landes.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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