Rezension von Eberhard Fromm


 

Gegen den Kult des Erfolgs
Helmut Schmidt:
Auf der Suche nach einer öffentlichen Moral
Deutschland vor dem neuen Jahrhundert.
Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1998, 268 S.
 

Der Altbundeskanzler balanciert in diesem Buch mit viel Geschick auf dem schmalen Grat zwischen der Formulierung ethischer Anforderungen und dem bloßen Moralisieren. Man glaubt dem in der Öffentlichkeit und als Publizist immer noch so aktiven Helmut Schmidt seine Altersweisheiten, die er hier verkündet. Aber dafür muß man guten Willens sein. Denn es wird wenig argumentiert, abgewogen, diskutiert. Auch echte Analysen der bundesdeutschen Wirklichkeit sind rar. Dagegen überwiegen die kritischen Feststellungen, Beschreibungen und Vorhaltungen auf der einen, die moralischen Forderungen auf der anderen Seite.

Schmidt stellt fest, daß die öffentliche Moral in Deutschland langsam zerfalle, daß sich ein bisher ungewohntes Maß an rücksichtslosem Egoismus, Selbstsucht und sogar Habgier breitmache. Daher wendet er sich mit seinem moralischen Appell an die politische Klasse in Deutschland, offensiv gegen den Werteverfall vorzugehen und ein eigenes Konzept zu entwickeln und durchzusetzen. In fünf Abschnitten beschreibt er den Zustand („Verfall oder Wandel?”), formuliert die Aufgaben der politischen Klasse („Die Verantwortung der Funktionseliten”), stellt dabei die Wirtschaft in den Mittelpunkt („Die Wirtschaft ist unser Schicksal”), fordert Pflichten und Tugenden ein („Mut zur Moral”), um schließlich einen Ausblick auf künftige Zeiten zu wagen („Das ganz andere Jahrhundert”).

Der Altbundeskanzler geht mit der bundesdeutschen Wirklichkeit nicht gerade glimpflich um. Er bescheinigt ihr ein bisher nicht bekanntes Maß von Ungerechtigkeit, nennt die Ziele der wirtschaftlichen Funktionselite, der Manager, vorwiegend eigensüchtig, beklagt einen nie gekannten finanzpolitischen Wirrwarr, kurz, er erkennt einen sich beschleunigenden schleichenden Verfall der Moral in der Gesellschaft. Auch geht er davon aus, daß das „Fernsehzeitalter” den Charakter der Demokratie verändere, daß man von einer Art „schleichender Kulturrevolution” sprechen könnte.

Dagegen fordert er von der politischen Klasse Kraft und Mut zu Reformen und Erneuerungen. Wie schon in früheren Veröffentlichungen entwickelt er die Idee, daß die Politiker selbst einen für sie gültigen Ethik-Kodex aufstellen sollten. Darin müßten als Forderungen enthalten sein, daß der Politiker gute Kenntnisse vom Grundgesetz besitzt, daß er über Kenntnisse der deutschen Geschichte verfügt, daß er Fachkenntnisse auf mindestens einem Gebiet aufweist und daß er über eine abgeschlossene Ausbildung und Berufspraxis verfügt.

Im Anhang des Buches findet man den Entwurf einer „Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten”, der unter Vorsitz von Helmut Schmidt von einem internationalen Gremium ausgearbeitet worden ist und dem u. a. Jimmy Carter, Valéry Giscard d'Estaing, Michail Gorbatschow, Kenneth Kaunda und Shimon Peres angehörten. Dieses Papier wurde 1997 an den UNO-Generalsekretär übergeben. Hierin werden im Unterschied zur Erklärung der Menschenrechte eben die unabdingbaren Pflichten der Menschen in der Gesellschaft formuliert. Das sind für Schmidt ebensolche Forderungen, wie er sie auch in einem Ethik-Kodex für deutsche Politiker wiederfinden möchte. Denn er verlangt von der politischen Klasse Beispielhaftigkeit und Führungsqualitäten.

Entscheidende strukturelle Veränderungen hält Schmidt vor allem in der Wirtschaft für erforderlich. „Wer heute regiert, muß sich zu tiefgreifenden sozialökonomischen Entscheidungen durchringen”, stellt er fest und skizziert dann die aus seiner Sicht acht wichtigsten Aufgabenfelder auf diesem Gebiet. Das reicht von der Senkung der Staatsquote und von konsequenten Veränderungen bei Steuern und Subventionen bis zur Erneuerung der sozialen Sicherungssysteme.

Es wäre sicher wünschenswert, wenn sich der vom Autor anvisierte Adressat diesen dringlichen moralischen Appell zu Herzen nähme. Doch da ist wohl auf Grund der bisherigen Erfahrungen mit den deutschen Politikern Skepsis angebracht.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite