Rezension von Volker Titel


 

Merkur und die Bücher

Thomas Keiderling (Hrsg.):
Das Memorandum der Leipziger Kommissionäre von 1846
Brockhaus Kommissionsgeschäft, Abt. Verlag, Kornwestheim 1999, 139 S.
 

Wie kam der interessierte Leser des 19. Jahrhunderts zu den von ihm begehrten Neuerscheinungen? Der Gang in die Bibliothek war möglich oder, wenn nicht nur die Lektüre, sondern auch der Besitz der literarischen Werke angestrebt wurde, zum Sortimentsbuchhändler. Hierin liegt wenig Bemerkenswertes: Es war das übliche Geschehen auf der einen, der Nachfrage-Seite des Buchmarktes. Anders verhält es sich, wenn man die Seite des Anbieters betrachtet. Wie kam also der Sortimentsbuchhändler zu der Ware, die er seinem Kunden offerierte?

Das 19. Jahrhundert war ein modernes Jahrhundert. Aus der Sicht der Profession bedeutete dies zumeist Spezialisierung. Und es bedeutete Beschleunigung. Auf den Buchhandel bezogen, bestand die Herausforderung darin, in immer kürzerer Zeit eine beständig anwachsende Zahl literarischer Erzeugnisse herzustellen und zu vertreiben. Auf dem deutschen Buchmarkt wurden um 1800 jährlich etwa 4 000 Titel angeboten, ein Jahrhundert später waren es knapp 25 000, 1914 gar 35 000. Für die Auflagenhöhen lassen sich keine zuverlässigen Aussagen treffen, zweifellos gab es aber auch hier ähnliche Zuwächse - ein gigantischer Triumphzug des gedruckten Wortes. Der enge Zusammenhang von literarischer Öffentlichkeit und der gesellschaftlichen Entwicklung gerade in der Neuzeit ist oft genug betont worden. In den Blick geraten dabei zumeist die Druckerzeugnisse selbst oder deren Autoren. Allenfalls wird auch die Funktion der Verleger und Redakteure gewürdigt. Kaum aber wird das Problem erörtert, wie denn der Geschäftsverkehr i n n e r h a l b des Buchhandels realisiert wurde.

Das vom Leipziger Wirtschaftshistoriker Thomas Keiderling kommentierte „Memorandum der Leipziger Kommissionäre” gibt genau darüber Auskunft: „Die Grundidee des Leipziger Geschäfts, das Bedürfnis nach deutscher Literatur, wo dasselbe auch auftauchen mag, regelmäßig, richtig, rasch und möglichst wohlfeil zu befriedigen, erheischte, daß diese uns anvertraute wichtige Funktion in ein wohlgeordnetes System gebracht wurde.” - Das Memorandum beschreibt eben jenes „wohlgeordnete System”, mit dessen Hilfe der Bücherverkehr zwischen Verlag und Sortiment und damit zum Kunden ermöglicht wurde. Zentrum dieses Systems war Leipzig, getragen von zum Teil namhaften Firmen wie Brockhaus, Keil, Reclam, Koehler, Barth und Volckmar. Adressaten des Memorandums waren die Akteure der Branche selbst, also die zum deutschen Buchhandel gehörenden Firmen, die als „Kommittenten” die Vermittlung des Stapelplatzes Leipzig beanspruchten. Es ging den Autoren des Memorandum darum, ihre Geschäftspartner von Umfang und Art der Kommissionsleistungen zu informieren, wohl auch, um die dafür eingeforderten Spesen zu rechtfertigen. Ob eine Deutung, daß „pecuniäres Interesse diese Zeilen dictirten”, wogegen sich die 39 Unterzeichner des Memorandums ausdrücklich verwahrten, möglicherweise dennoch so abwegig nicht war, mag offenbleiben. Daß der Erfolg der Gesamtbranche maßgeblich von den Innovationsleistungen des Kommissionsbuchhandels gestützt wurde, dies ist dagegen durchaus plausibel, wenn auch durch die Forschung bislang kaum hinreichend gewürdigt.

Der Umstand, daß der als Manuskript gedruckte Text nicht für die Öffentlichkeit bestimmt war und demzufolge keinen Eingang in Bibliotheken außerhalb der Branche fand, hat einerseits Reizvolles: Man kann bei der Lektüre eintauchen in die Interna des damaligen Buchhandels, in die Geschäftspraxis, die Wirtschaftsgesinnung, die Probleme, aber auch in das kulturelle Selbstbild der Unternehmer. Der Charakter als brancheninterner „Gebrauchstext” hatte jedoch dazu geführt, daß die (rechnet man für jede deutsche Buchhandlung im Jahre 1846 ein Memorandum) gut 1 500 Exemplare nicht erhalten blieben. Nach den Verlusten durch den Zweiten Weltkrieg im Leipziger Buchhandelsarchiv schien es gar, als gäbe es nur noch indirekte Hinweise auf den Text, etwa in buchhändlerischen Journalen dieser Zeit. Keiderling, seit längerem mit der Thematik befaßt, wurde dennoch fündig, und zwar im Hauptverband der österreichischen Buchhändler in Wien. Das dortige Exemplar diente als Vorlage für den vorliegenden Faksimile-Druck.

Eine der ersten überlieferten Reaktionen auf das Leipziger Memorandum stammt von keinem Geringeren als Julius Springer aus Berlin. In einem Artikel des „Börsenblatts für den Deutschen Buchhandel” vom Juni 1846, der von Keiderling als Transkript unmittelbar nach dem Text des Memorandums gebracht wird, würdigt Springer trotz einiger kleiner Einwände die Denkschrift der Leipziger Kommissionäre, deren Leistungen überhaupt einen Wert hätten, „an welchen zu mäkeln nicht billig ist”.

Schon die Edition der einzigartigen Quelle ist zweifellos ein Verdienst. Aber das beim Kommissionsgeschäft Brockhaus (jetzt in Kornwestheim firmierend) erschienene Buch bietet mehr: Auf gut 20 Seiten gibt Keiderling eine kenntnisreiche Einführung in die Entstehungsumstände des Textes und die Bedeutung des Kommissionsbuchhandels für den Buchmarkt im 19. Jahrhundert generell. Durch diese Einführung wie durch ein in den Anhang genommenes, sorgfältig gestaltetes Glossar wird ein Brückenschlag auch zu jenen Lesern möglich, die nicht über das entsprechende Vorwissen verfügen, um etwa die Feinheiten von Wechselgeschäften oder Konditionssendungen einordnen zu können. Die ebenfalls im Anhang zu findende Liste jener Leipziger Kommissionäre, die das Memorandum unterzeichnet haben, dürfte weithin von Interesse dadurch sein, daß hier jeweils die Namen der Kommittenten, also der Auftraggeber außerhalb Leipzigs, mit aufgeführt werden. Man kann so beispielsweise erfahren, daß der Klassikerverlag Cotta aus Stuttgart seine Geschäfte über Carl Cnobloch vermitteln ließ, der Gütersloher Bertelsmann bei Johann Ambrosius Barth und Springer aus Berlin bei Friedrich Volckmar. Sofern man beabsichtigt, über die geschäftlichen Beziehungen bestimmter Verleger im 19. Jahrhundert Näheres in Erfahrung zu bringen, kann diese Liste wichtige Hinweise liefern. Erfreulich ist auch eine weitere im Anhang aufgenommene Liste mit den Leipziger Kommissionären, die das Memorandum nicht unterzeichnet haben. Hier fehlen allerdings die Namen der Kommittenten, wodurch die sicher in mehrfacher Hinsicht lohnende Gesamtsicht auf die Kommittenten des Jahres 1846 verhindert wird. Abgerundet wird der Anhang zum Memorandum durch eine fundierte Auswahlbibliographie, die Arbeiten zum Kommissionsbuchhandel von den Anfängen bis ins 20. Jahrhundert enthält.

Das Memorandum der Leipziger Kommissionäre von 1846 verweist neben anderem auf Innovationen in der Mitte des 19. Jahrhunderts; die kommentierte Fassung des ausgehenden 20. Jahrhunderts präsentiert sich mit gleichem Anspruch: Sollte demnächst - was unbedingt zu wünschen ist - die erste Auflage vergriffen sein, kann die weitere Nachfrage durch das System „Books on Demand” befriedigt werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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