Rezension von Volker Strebel


 

Die Apfelbäume blühten, als ich zur Irrenanstalt ging
Zbynek Havlícek: Die dreiundsechzigste Art
Aus dem Tschechischen von Dominique Fliegler/Tereza
Utesený/Martin Hrádek.
Konrad Kirsch, das ferngesteuerte buch, Sulzbach/Saar 1998, 100 S.
 

In keinem anderen europäischen Land hatte die Inspiration des französischen Surrealismus eine derartig selbständige und kreative Schule ausgelöst wie in Böhmen der 20er und 30er Jahre. Freilich, bereits vor der tschechoslowakischen Staatsgründung 1919 war vor allem die tschechische, aber auch die slowakische Intelligenz frankophil eingestellt, was oft genug als demonstrativer Akt gegen das vorherrschende deutschsprachige Element gedeutet wurde. Nicht nur die Übersetzung einer französischen Anthologie durch den glänzenden Erzähler, Romancier und auch Nachdichter Karel Capek galt durch seinen Einblick in neue lyrische Entwicklungen als Meilenstein in der Entfaltung der tschechischen Dichtung. In ungewöhnlicher Weise wurden französische Prätexte im mitteleuropäischen Böhmen für die eigene Literatur fruchtbar weiterentwickelt. Dies galt auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als in der Tschechoslowakei der reale Sozialismus aufgebaut werden sollte. Tatsache war, daß ein verkümmerter sozialistischer Realismus zur allgemeinen Kunstdoktrin verpflichtet wurde. Abweichende Anschauungen wurden unterdrückt oder in den Untergrund verdrängt. Als Mitte der 60er Jahre André Breton in Paris verstarb, war es Zbynek Havlícek, der in der Prager Literaturzeitung „Literárné noviny” einen frappierend kenntnisreichen und umfassenden Nachruf verfaßt hatte. Der renommierte Literaturwissenschaftler Kvetoslav Chvatík, selbst in den 60er Jahren Teilnehmer von Bestrebungen, unterdrückte Traditionen im eigenen Land wieder freizugeben, hat einmal die Geschichte des tschechoslowakischen Surrealismus mit einem Fluß verglichen, der unterirdisch weiterfließt.

Nebenbei bemerkt ist für die tschechische Rezeption europäischer Themata kennzeichnend, daß neben einer frühzeitigen Wahrnehmung eine produktive wie eigenständige Verarbeitung und Weiterentwicklung einsetzt. Dies gilt neben den maßgeblichen künstlerischen wie literarischen Strömungen dieses Jahrhunderts ebenso für die Aufnahme wissenschaftlicher und philosophischer Ansätze. Im Kontext des Surrealismus wäre an dieser Stelle der Historiker und Philosoph Robert Kalivoda zu nennen, der während des Zweiten Weltkrieges engen Kontakt zu jungen Surrealisten gehalten hatte und sich in späteren Jahren profilierte, als er die Kraft der marxistischen Analyse der Vieldeutigkeit einer modernen Wirklichkeit ausgesetzt hatte. Daß diese Versuche nicht nur einer orthodoxen Parteibürokratie, sondern im Zuge des Kalten Krieges auch einer westlichen Verschlossenheit geopfert wurden, kennzeichnet auch das Schicksal der wenigen Surrealisten, die lediglich im verborgenen ihre maschinengeschriebenen Texte in wenigen Exemplaren in Umlauf bringen konnten.

Diese Variante des europäischen Surrealismus entwickelte sich unter den politischen Bedingungen einer totalitären Diktatur und war somit auch davon gekennzeichnet: „Auch der Stalinismus hat seine Venus / Gefühllos wie eine Fechtmaske / In Begleitung Deutscher Schäferhunde / Spaziert sie durch die Köpfe wie über einen öffentlichen Platz / Als entzündete sie Lampen in den Köpfen der Statuen.” Trotz des beeindruckenden Reichtums an Metaphern in Zbynek Havlíceks Versen ist immer eine rationale Orientierung erkennbar. Der Titel dieser vorliegenden Sammlung beruft sich auf ein Zitat von Georg Christoph Lichtenberg: „Ich habe zweiundsechzig Arten beschrieben, den Kopf in die Hand zu legen.” Havlícek hat, darauf bezogen, in seinem Gedicht dreiundsechzig Arten aufgezählt ...

Dem Kleinverleger Konrad Kirsch ist zu danken, daß er sich allen Marktgesetzen zum Trotz eines tschechischen Autors angenommen hat, der in seiner Heimat in Kreisen von Literaturliebhabern längst zur Legende geworden ist. Und dies, obwohl Zbynek Havlícek bereits 1969 im Alter von 46 Jahren verstarb. Mit jahrzehntelanger Verspätung wurden Havlíceks Werke in Tschechien erst in den 90er Jahren publiziert. Das kundige Nachwort des Literaturdozenten Jiri Holý vermag den Leser in Zeit und Umstände der Verse Zbynek Havlíceks einzuführen. Einen Reim auf dessen Verse müssen sich zuletzt die Leser selber machen. Sie werden im guten Sinne erstaunt sein!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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