Rezension von Eberhard Fromm


 

Analyse einer Niederlage
Heiner Geißler: Zeit, das Visier zu öffnen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 1999, 356 S.
 

Der frühere Generalsekretär der CDU und kenntnisreiche Sozialpolitiker Heiner Geißler (1930) hat sich unmittelbar nach der Wahlniederlage seiner Partei 1998 der Aufgabe gestellt, diesen politischen Erdrutsch nach allen Seiten hin zu untersuchen. Daß er das mit heißem Herzen getan hat, wird mit dem ersten Satz seines Buches deutlich: „Ich schreibe dieses Buch voller Empörung und Zorn.”

Diese emotionale Anteilnahme wird in allen Teilen des Buches spürbar. Das heißt jedoch nicht, daß Geißler unsachlich argumentiert oder gar blind um sich schlägt. Er nutzt das reiche Material der Wahlsoziologen, er seziert die Politik seiner Partei in den zurückliegenden Jahren, er untersucht die Positionen der politischen Koalitionspartner und Gegner, und er befaßt sich intensiv mit der konkreten Wahlstrategie in dieser Bundestagswahl. Aber er geht alle diese Fragen nicht als unbeteiligter Beobachter, nicht als außenstehender Kritiker an, sondern als ein mit seiner Partei eng verbundener Politiker, der durch seine jahrzehntelange Arbeit als Abgeordneter, als Generalsekretär und als Minister über intime Kenntnisse verfügt und der einen eigenen Kopf und eigene Konzepte besitzt.

Wer also hier eine „Abrechnung” erwartet, etwa aus der Sicht des von Helmut Kohl abservierten Generalsekrtetärs - Geißler war bekanntlich zwischen 1977 und 1989 in dieser Funktion tätig und wurde auf dem Saarbrückener Parteitag von Kohl nicht mehr für dieses Amt nominiert -, der wird enttäuscht sein. Obwohl er keinen Hehl aus seiner kritischen Haltung gegenüber vielen Entscheidungen Kohls macht, hat der Leser nie das Gefühl, daß es hierbei um persönliche Differenzen oder Querelen ginge. Jede Kritik, die Geißler an seiner Partei oder auch am Parteivorsitzenden und Bundeskanzler übt, wird von ihm mit sachlichen Argumenten begründet. Man muß diese Argumente nicht akzeptieren, aber man kann sie auch nicht als Unterstellungen o. ä. abqualifizieren.

Die Analyse der Niederlage setzt mit einer gründlichen Auswertung des Wahlergebnisses ein. Danach werden die nach Meinung Geißlers wichtigsten Ursachen der Wahlniederlage benannt und untersucht. Das beginnt mit dem gescheiterten Bündnis für Arbeit, woraus sich als Konsequenz ergab, daß alle von der CDU gewollten Reformen nicht im Konsens mit der Opposition, sondern in der Konfrontation mit ihr realisiert werden mußten. „Das Ende des Bündnisses war der Anfang vom Ende der CDU als Regierungspartei.”

Anschließend setzt sich der Autor mit den immer wieder angepriesenen Modellen USA und Großbritannien auseinander und lehnt sie als für Deutschland nicht gültig ab. Scharf geht er mit den neoliberalen Positionen, wie sie in der FDP und Teilen der CDU vertreten werden, ins Gericht und bedauert, daß seine Partei „die ökonomische Herausforderung und die moralische Dimension der Globalisierung nicht begriffen hat”. Er prognostiziert, daß der globale Kapitalismus zusammenbrechen werde, betont die Bedeutung des Konflikts zwischen Kapital und Arbeit und stellt apodiktisch fest: „Das Kapital eliminiert die Arbeit und liquidiert die Menschen am Arbeitsplatz. Der Kapitalismus ist so falsch wie der Kommunismus.” Dagegen setzt er das Konzept der sozialen Marktwirtschaft mit all seinen ökonomischen, sozialen und politischen Dimensionen.

Weitere Themen der Analyse sind die einzelnen Reformen der letzten Jahre, der Generationskonflikt im Lichte der Rentenreform und die spezifische Entwicklung in den neuen Bundesländern, die nach Meinung Geißlers von der CDU nicht mitvollzogen worden ist. Als Resümee seiner Untersuchungen zur Wahlniederlage 1998 stellt er fest: „Die CDU hat in der Mitte verloren - die Folge einer Politik, die das Bündnis für Arbeit zerstört hat, das Ergebnis einer Koalition mit den Liberalen, die mit ihrer kapitalistischen Philosophie des ,shareholder value‘ über soziale Leichen gingen, und das Resultat einer rechtskonservativ geprägten Innen- und Ausländerpolitik.” Deshalb stellt er als Aufgabe seiner Partei, die Mitte zurückzugewinnen, die gegenwärtig von der SPD beansprucht wird. Dabei müsse Partnerschaft und Konsens entwickelt werden, nicht Konfrontation. Und es gehe um ein zukunftsträchtiges Konzept für die soziale Marktwirtschaft unter den Bedingungen der Globalisierung.

Die Analyse Geißlers ist sicherlich besonders für die CDU gedacht. Aber auch die Gewinner der Bundestagswahlen 1998 mußten ja erfahren, wie bitter sich politische Fehler und Pannen rächen - die Landtagswahlen haben das schnell bestätigt. Insofern ist das Buch für alle von Interesse, die um ein besseres Ansehen der politischen Parteien in Deutschland bemüht sind.

Aus der Sicht unserer Tage ist die Analyse Geißlers natürlich besonders dort spannend, wo er auf moralischen Vertrauensverlust zu sprechen kommt. Er kannte die Affären um die Parteifinanzen der CDU ja noch nicht, als er schrieb: „Im Mai 1984 hatte die CDU zusammen mit den Freien Demokraten versucht, die Amnestie für Parteispender und für die Politiker, die Parteispenden entgegengenommen hatten, durchzusetzen. Der Plan scheiterte, die Regierungsparteien wurden sozusagen als Diebe ertappt. Das war der Beginn einer moralischen Vertrauenskrise ...” Geißler fordert im Ergebnis seiner Analyse seine Partei ultimativ auf, das Visier zu öffnen. Ob er gewußt hat, was da zutage trat?!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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