Rezension von Christian Böttger


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Ein leidvoller Schicksalsweg

 

Alfred Eisfeld: Die Rußlanddeutschen
Studienbuchreihe der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat. Band 2.
Erweiterte und aktualisierte Neuauflage.

Langen Müller, München 1999, 252 S.

 

In den Jahren seit der Wende in Osteuropa erlebte die Rückwanderung von Hunderttausenden Aussiedlern deutscher Herkunft aus den Staaten der GUS oder anderen Staaten Osteuropas einen mächtigen Auftrieb. Allein aus der ehemaligen Sowjetunion kamen in der Zeit zwischen 1990 und 1999 über 1,5 Millionen Rußlanddeutsche nach Deutschland. Dabei war wohl bis dahin keine ethnische Gemeinschaft im Bewußtsein der deutschen Öffentlichkeit so wenig präsent wie diese. Entsprechend verwirrt reagierten sowohl Teile der breiten Öffentlichkeit wie auch des politischen Establishments, als nach dem Scheitern der Autonomiebewegung Anfang der 90er Jahre die Rückwanderung in die Bundesrepublik Deutschland als Massenerscheinung einsetzte. Viele jener Politiker, die jahrelang bemüht waren, das im Grundgesetz verankerte Recht auf Asyl mit dem Hinweis auf unsere Vergangenheit zu verteidigen, wollten auf einmal den Zusammenhang zwischen dem Leidensweg der Rußlanddeutschen und unserer Vergangenheit nicht mehr wahrhaben, obwohl sich dieser Zusammenhang viel direkter herleiten läßt. Das Schicksal der Rußlanddeutschen gehört zum Schlimmsten, was Angehörigen einer Volksgruppe in ihrer Geschichte angetan wurde. Daran hatten auch die Deutschen in Deutschland, nicht jedoch die Rußlanddeutschen selbst, einen nicht zu unterschätzenden Schuldanteil.

Wer aber aufgrund der Bedeutung des Themas und der Schwere des Schicksals der davon betroffenen Menschen eine tiefgründige gesellschaftliche Beschäftigung mit dieser Problematik als angemessen voraussetzt, muß enttäuscht feststellen, daß bis jetzt eine solche Beschäftigung nur in historisch interessierten Kreisen stattfindet. Vor allem bei den Bürgern der ehemaligen DDR herrscht große Unkenntnis über die östlich von Oder und Neiße beheimateten Deutschen. Die Erwartung, daß die zu uns kommenden Rußlanddeutschen aufgrund ihres kollektiven Schicksals als „pressure group” aktiv auf sich aufmerksam machen und massiv auf politische Entscheidungen einwirken werden, hat sich leider nicht erfüllt.

Um so wichtiger ist es, daß die bereits 1992 vom Autor vorgelegte Publikation über die Rußlanddeutschen, die nach kurzer Zeit bereits vergriffen war, im vergangenen Jahr eine Neuauflage erfahren hat. Die Publikation erscheint im Auftrag der „Stiftung Ostdeutscher Kulturrat” in einer Studienbuchreihe zu Vertreibungsgebieten und vertriebenen Deutschen. Sie ist auf 12 Bände angelegt und wird von dem renommierten Mainzer Universitätsprofessor Wilfried Schlau herausgegeben.

Diese Studienbuchreihe, die in erster Linie als pädagogische Handreichung gedacht ist, wendet sich an Lehrkräfte aller Schularten, an Schüler der Kollegstufe der Gymnasien, an Studenten aller Fachbereiche sowie an alle Interessierten, die tiefer in diese Problematik einsteigen wollen.

Der überwiegend chronologisch gegliederte Inhalt ist mit zahlreichen Anmerkungen versehen, deren Literaturhinweise es dem Leser ermöglichen, durch selbständiges Weiterarbeiten zu einem eigenen fundierten Urteil zu gelangen.

Der zeitliche Rahmen dieser in sechs Teile gegliederten Chronologie ist durch das Thema vorgegeben und begrenzt den Zeitraum vom Beginn der Einwanderung der Rußlanddeutschen bis zur Gegenwart. Der erste und der letzte Teil enthalten Beiträge von Mitautoren. Während Detlef Brandes die Zeitspanne von der Ansiedlung bis zur Aufhebung des Kolonistenstatuts (1871) darstellt, behandelt Wilhelm Kahle ein spezielles Thema, die Frömmigkeit und das kirchliche Leben der Kolonisten. Alfred Eisfeld, der die Darstellung des Schicksals der Rußlanddeutschen von 1871 bis zu ihrer gegenwärtigen Rückwanderung nach Deutschland übernommen hat, liefert somit den Kern der Publikation.

Bei den Erweiterungen dieser Neuauflage bildet die Rückwanderungsproblematik einen Schwerpunkt. Hier werden sehr treffend die politischen Haltungen der großen deutschen Parteien zur Rückwanderungsfrage herausgearbeitet, die Motive dafür bleiben jedoch eher im Hintergrund.

Die Notwendigkeit zur Ergänzung ergab sich u. a. auch aus der inzwischen erfolgten Öffnung der sowjetischen Archive. So erfahren wir Details über die stalinistischen Säuberungen 1937/38. Die Aufarbeitung dieses historischen Abschnitts wird in Zukunft noch ganze Generationen von Historikern zu beschäftigen haben und so manche Überraschungen bringen. Die hier vorliegende Publikation beschreibt in diesem Zusammenhang gerade mal die Spitze eines Eisberges, der nur sehr behutsam abgetragen werden kann.

Dennoch ist diese Publikation mehr als nur eine Aufarbeitung des Stalinismus. Am hier ausgebreiteten historischen Faktenmaterial wird u. a. auch deutlich, worin sich die Rußlanddeutschen von den deutschen Einwanderern, die überwiegend im 19. Jahrhundert in die USA eingewandert waren, grundsätzlich unterscheiden.

Man erkennt, von welchen Faktoren es abhängig ist, ob Einwanderergruppen assimiliert werden oder unter welchen Bedingungen es ihnen gelingt, sich als nationale Minderheit mit entsprechenden politischen Forderungen und Ansprüchen zu etablieren, wie das bei den Rußlanddeutschen vor 1941 der Fall war. Diese Erkenntnisse sind besonders im Hinblick auf die bis jetzt erfolgten Rückwanderungen von Bedeutung, wird den Rußlanddeutschen doch oft die Fähigkeit abgesprochen, ihre Ethnizität über 200 Jahre hindurch erhalten zu haben. Insofern ist die vorliegende Publikation mehr als nur die historische Darstellung des Schicksals einer ethnischen Minderheit. Sie ist ein Zeugnis für die vielfältigen Möglichkeiten menschlicher Kulturentwicklung, die es trotz der weltweiten Globalisierungstendenzen zu erhalten gilt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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