Rezension von Joachim Liebig


 

Wanderertum - das zentrale Moment der Welterfahrung
Peter Brook: Zeitfäden
Erinnerungen. Aus dem Englischen von Frank Heibert.
S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1999, 320 S.
 

Was von einem Leben der Nachwelt erhalten werden soll, das ist auch bei berühmten Theaterpersönlichkeiten mitunter in einer (Auto-)Biographie zu finden. Wenn man Pech hat, kommt eine bloße Anekdotensammlung heraus. Mit etwas Glück wird man auf eine kurzweilige Reise mitgenommen. Peter Brooks Zeitfäden sind ein solcher Glücksfall. Der 1925 in London geborene Regisseur liefert dabei in seinen Erinnerungen nicht so sehr eine Darstellung seines Lebens, sondern eher eine philosophische Suche nach dem Selbst. Seine Reflexionen sind fragmentarisch, vernachlässigen Details, springen manchmal abrupt von der Sahara nach Afghanistan: eine labyrinthische Wanderschaft. In den Zeitfäden verstärkt Brook nochmals diese in den Schriften Wanderjahre angelegte essayistische Verarbeitung der rastlosen Arbeitswut mit biographischen Stationen (während das in den 60er und 70er Jahren bahnbrechende Werk Der leere Raum eher programmatischen Charakter hat). In seiner Autobiographie nun fahndet Brook, der seit der Gründung seines „Centre International de Recherche Théâtrales” im Jahre 1970 in Paris lebt, nach Mustern, nach Lebenslinien, die seinen Weg bestimmt haben, und verwebt diese zu einer Art Ereignisnetz, freilich ohne sich allzusehr um eine Chronologie zu kümmern.

Das Reisen und Standortwechseln, das Rastlose und Umtriebige sind seit Brooks Kindheit, dessen Eltern russisch-jüdischer Herkunft sind, das zentrale Moment der Welterfahrung. Aus diesem Wanderertum entwickelt er eine Grundhaltung, die auch für seine Arbeit gilt: Wahrheit muß immer überprüft werden, ist nie endgültig. Bis zum Tag der Premiere muß der Regisseur bereit sein, Lösungen für szenische Vorgänge in Frage zu stellen und zu verändern. Eine weitere wesentliche Triebkraft Brooks ist die Fähigkeit zum Staunen, die es ihm erlaubt, den Dingen der Welt und des eigenen Lebens gegenüber eine kindliche Naivität und Aufnahmebereitschaft aufrechtzuerhalten. Oft spielt in Brooks Leben der Regisseur „Zufall” eine wichtige oder gar entscheidende Rolle. Etwa als ihn in der Schule der Lehrer Mr. Taylor eines Tages völlig unvermittelt fragt: „Warum ist Rhythmus der gemeinsame Nenner aller Künste?” Die Frage wird Brook ein Leben lang beschäftigen, ohne eine letztlich befriedigende Antwort zu finden.

Das Buch liefert natürlich auch harte biographische Fakten. Die Mutter ist Chemikerin, der Vater Inhaber eines pharmazeutischen Geschäfts. Im Alter von zehn Jahren macht Klein Peter seine „erste” Inszenierung: Aus gesundheitlichen Gründen an die See geschickt, animiert er zwei kleine Mädchen, bei einer Party eine eigene Mini-Show mit ihm einzustudieren. Dies war der Anfang der Regiekarriere eines schwächlichen Jungen, der zudem in der Schule ein geübter Drückeberger war und der später neben Brecht, Artaud, Stanislawski und Craig zu einem der bedeutendsten Theatermacher des 20. Jahrhunderts werden sollte. Als er mit zwanzig Jahren in London „Doktor Faustus” als erste „echte” Inszenierung herausbringt, hat er so gut wie keine Ahnung von Regieführen und Theater. Und dies hat sich auch noch nicht entscheidend geändert, als er mit zweiundzwanzig Künstlerischer Leiter am Royal Opera House wird. Doch Peter Brook ist beileibe kein Blender, sondern ein konsequenter Macher, der sich sein Fachwissen learning by doing aneignet. Offenbar spiegeln die biographischen Etappen wie auch die Anekdote um Brooks erste Mini-Inszenierung seine größte Stärke wider: Menschen davon zu überzeugen, für und mit ihm zu arbeiten respektive - wie etwa zur Zeit der Gründung des „Centre”-Labors - ihm Geld zur Verwirklichung seiner Ideen zu geben.

Über seiner rastlosen, fast triebhaften Arbeit von einer Inszenierung zur nächsten liegt für Brook dennoch ein höheres, übergeordnetes Erkenntnisinteresse, in dem letztlich auch das Zentrum seiner Vita liegt. Es ist seine Suche nach Harmonie und unmittelbarer Erfahrung. Brook beschäftigt sich intensiv mit dem Spiritismus, insbesondere mit der Lehre des Russen Gurdjieff, und erkennt, daß alle Möglichkeiten zur Erreichung eines höheren Ichs im Prinzip in jedem Augenblick da sind. Das Ergebnis ist eine Art Theatro-Spiritismus, die Theater als einen „Akt des Heilens” versteht. In einer allgemein-therapeutischen Sichtweise begreift Brook Theater so als Metapher, die den Prozeß des Lebens erhellen kann. Nicht mehr und nicht weniger. Brook selber will kein Theater-Guru sein, wie er ausdrücklich betont. Daß er es dennoch für viele definitiv ist, bleibt unzweifelhaft.

Mit der Seßhaftwerdung in Paris und der Gründung seines „Centre”-Theaterlabors beginnt eine immer noch anhaltende Experimentierphase. Über Sponsoren organisiert er Geld, erobert sich das legendäre Théâtre des Bouffes du Nord und ist seitdem mit Schauspielern aus zahlreichen Ländern der Erde sowie einigen Mitarbeitern auf der Suche nach Theater-Universalien, nach sprachunabhängigen Ausdrucksformen, die in allen Kulturen verstanden werden können. In dem mehrjärigen Indien-Projekt „Mahabharata” werden diese Formen untersucht und ausprobiert.

Das Buch ist auch ein Hallo! mit vielen Theater- und Kunstgrößen der Zeit, was zu seiner vergnüglichen Kurzweiligkeit beiträgt. Salvador Dali etwa entwirft für Brooks „Salome”-Inszenierung 1949 das Bühnenbild und verschreckt das Team durch scheinbar absolut unrealisierbare Ideen. An Brecht bewundert Brook das Regie-Können, lehnt aber zugleich dessen gnadenlose Verbannung aller romantischen und zauberhaften Sentimentalitäten von der Bühne ab. Geht es Brook doch nicht zuletzt auch immer um den magischen Kick, den Zauber, den Theater auszulösen vermag und der nicht recht rational erklärt werden kann.

Der Abschluß des Buchs ist Brooks neuen Inszenierungen gewidmet, die alle in Deutschland zu sehen waren. Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Thema „Wahrnehmung”. „L'homme qui” (1996) ist eine Auseinandersetzung mit den Berichten des New Yorker Neurologen Oliver Sacks, in der Brook mit seiner Truppe eine Schauspiel-Sprache für die Darstellung von neurologischen Defekten sucht. Die letzte theatralische Recherche, „Je suis un phénomène” (1998), forscht nach den phänomenalen Gedächtnisleistungen von Solomon Shereshevsky, der im Rußland der dreißiger Jahre Berühmtheit erlangte. Seine Erinnerung war unendlich und deshalb eine Qual.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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