Rezension von Gerhard Keiderling


 

Die Besatzungszeit im Überblick
Wolfgang Benz (Hrsg.):
Deutschland unter alliierter Besatzung 1945-1949/55
Ein Handbuch. Akademie Verlag, Berlin 1999, 494 S.
 

„Es gibt, wenn man von den lange verschlossenen Archiven der Sowjetunion und dem Fehlen schriftlicher Überlieferung zu manchen Vorgängen der ersten Besatzungszeit absieht, eher zuviel als zuwenig Quellen zum Thema Besatzungsherrschaft”, schrieb Wolfgang Benz, ein exzellenter Kenner deutscher Nachkriegsgeschichte, in seinem dtv-Band Potsdam 1945 aus dem Jahre 1986. Die Akten der US-Militärregierung waren seit 1973 freigegeben. In London und Colmar standen bald darauf die Bestände der britischen und der französischen Militärregierung dem wissenschaftlichen Benutzer zur Verfügung. Nach 1990 öffnete sich ein Zugang zu Moskauer Archiven, der sich in Editionen und Darstellungen niederschlug. Was sich aus der Besatzungszeit in den Archiven der früheren DDR ansammelte, ist inzwischen jedem Geschichtsstudenten zugänglich. In Anbetracht dieser Quellen- und Schriftenlage irritiert der Einleitungssatz im vorliegenden Handbuch: „Zu keinem Abschnitt der jüngeren deutschen Geschichte ist der Zugang so durch Unkenntnis verwehrt, durch Legenden überwuchert wie zur Periode der Besatzungsherrschaft.” Wer nach solcher Ankündigung ein „Feuerwerk” an Fakten, Belehrungen, Klarstellungen und Enthüllungen erwartet, gelangt am Ende des Bandes zu einer eher ernüchternden Erkenntnis.

Das Handbuch gliedert sich in sechs Abschnitte: Grundzüge der Besatzungspolitik in Deutschland bis 1955, Probleme der Besatzungspolitik im Vergleich der Zonen (Längsschnitte), Internationale Konferenzen, Institutionen und Organisationen, Begriffe und Ereignisse und Länder. Eine Chronologie sowie diverse Register schließen den Band ab. In einigen Abschnitten und Artikeln wird der zeitliche Rahmen bis 1955 gespannt, als in beiden deutschen Staaten die förmliche Beendigung der Besatzungszeit erfolgte.

Die insgesamt 84 Autoren wollen in den Beiträgen und kleineren Artikeln „gesicherte Kenntnis über ein schwieriges Kapitel deutscher Geschichte vermitteln”. Es ist aber gerade die gewählte Form, die diesen Vorsatz oft genug einschränkt. Ein Handbuch, das eine Unmenge an Informationen dem Benutzer zum sofortigen Gebrauch an die Hand geben will, sollte eher lexikalische als narrative Formen bevorzugen, wenn zudem der zur Verfügung stehende Raum knapp bemessen ist. (Der „Westeuropäischen Union” wurden sieben Spaltenzeilen bewilligt!) Auch hätte eine strengere redaktionelle Bearbeitung der Einzelbeiträge dem Gesamtwerk gutgetan. Obwohl die Grundzüge der Besatzungspolitik im allgemeinen und die jeder alliierten Macht im besonderen vorweg abgehandelt wurden, meinten viele Autoren, dies für ihren eigenen Beitrag noch einmal dartun zu müssen.

Derartige Überlängen und Überschneidungen gehen auf Kosten des Informationswertes. So sucht man im Längsschnitt „Parteien” vergebens einen Hinweis auf die „Kölner Leitsätze” der CDU vom 17. Juni 1945, auf Stegerwalds Thesen zur „Neugestaltung des deutschen Lebens” vom 21. August 1945 oder auf die Bildung der „Arbeitsgemeinschaft CDU/CSU” am 6. Februar 1947 in Königstein. Namhafte Parteipolitiker der Frühzeit wie Max Fechner, Heinrich Hellwege, Heinrich Krone, Josef Müller, Max Reimann, Adam Stegerwald, Theodor Steltzer, Hans Vogel, Helene Wessel u. a. bleiben unerwähnt, sogar im biographischen Register. Im Artikel „Verfassungsdiskussion” vermißt man die ersten Länderverfassungen. Daß der Verfassungsentwurf des Deutschen Volksrates 1948/49 pro forma zur öffentlichen Diskussion gestellt wurde, hätte man des Faktes wegen durchaus erwähnen können; schließlich ging das Grundgesetz des Parlamentarischen Rates ohne Plebiszit über die Bühne. Der Artikel „Währungsreform” beschäftigt sich nur mit dem Währungsschnitt in den Westzonen. Daß es in der SBZ zeitgleich auch eine Währungsreform gab, erfährt der Benutzer erst, wenn er sich bis zum Stichwort „Berlin-Blockade” durchgearbeitet hat. Die Auflösung des Staates Preußen durch das Kontrollratsgesetz Nr. 46 vom 25. Februar 1947 läßt sich auch mittels des Registers nicht finden. Zum „Rat der Außenminister”, zur „Allierten Kontrollkommission für Reparationen”, zur „Alliierten Kommandantur der Stadt Berlin”, zum „Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg” und zum „Alliierten Kriegsverbrechergefängnis in Berlin-Spandau”, zum „Allied Travel Bord”, zu „Non fraternisation”, zum Kriegsgefangenenproblem, zu den Kriegsgefangenenlagern bei Bad Kreuznach am Rhein und in der UdSSR und zu anderen relevanten Themen wären Beiträge erwünscht. Es fehlen Namenslisten und Amtsperioden der Militärgouverneure, Hochkommissare, Berliner Stadtkommandanten u. a. Derartige Lücken und Auslassungen finden sich leider im ganzen Handbuch und mindern dessen Wert. Auch sind wesentliche Elemente eines Handbuches - wie Karten, Organisationsstrukturen, Tabellen u. ä. - zu kurz gekommen.

Ein Mangel ist unübersehbar: Ein Handbuch sollte in jedem Falle dem Benutzer den forschungs- und literaturmäßigen Zugang zu seinem Gegenstand erschließen. Im vorliegenden Falle vermißt man ein Kapitel, das den aktuellen Forschungsstand referiert und auf Fundorte und Benutzungsmöglichkeiten des relevanten Archivgutes verweist. Die jedem Beitrag angefügten Literaturverweise sind geradezu kläglich. Sekundärliteratur - einige Standardtitel werden sozusagen durchgereicht - dominiert, zwischen älterem und neuerem Forschungsstand wird kaum differenziert. Quellengattungen wie „Amtsblatt des Alliierten Kontrollrates”, Sammlungen von alliierten Befehlen und Gesetzen, Dokumente zur Deutschlandpolitik (beispielsweise die FRUS-Serie) und zu den Zonenentwicklungen, die doch für die Periode grundlegend sind, tauchen überhaupt nicht auf.

Kurzum, das hier anzuzeigende Handbuch über die Besatzungszeit erreicht nicht den Standard solcher Kompendien wie das „SBZ-Handbuch” oder „DDR-Handbuch”. Dem Fachmann reicht das Vorliegende nicht aus; der Griff zu weiteren Handbüchern, Hilfsmitteln und Chroniken bleibt ihm nicht erspart.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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