Rezension von Helmut Hirsch


 

Endzeitahnungen oder „Der Rest ist ganz leicht”
Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.):
Die deutsche Literatur seit 1945
Letzte Welten 1984-1945.
Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1999, 413 S.
 

Diese Anthologie vereinigt das letzte Stück deutscher Literatur in zwei Staaten. Was Heinz Ludwig Arnold mit souveränem Überblick wieder zusammenband, beginnend 1945 mit Draußen vor der Tür, dann mit Doppelleben, Im Treibhaus und Die Wunderkinder bis hin zu Der geteilte Himmel (von 1961 bis 1966), dann über Deutschstunden, Unvollendete Geschichten und Seelenarbeiten bis zu diesem Band „Letzte Welten”, hat nun sein vorläufiges Ende gefunden. Anfangs war es ein Zeitraum von über vier Jahren, dann, mit der Teilung des Landes, wurde die Literatur im Sechs-Jahre-Zeitraum überblickt.

Ein mutiges Unternehmen ist diese Anthologie. Leser von Romanen werden dabei nicht so sehr auf ihre Kosten kommen. Denn in erster Linie werden Gedichte, Geschichten, kurze Prosa und kleinere Erzählungen geschlossen dargeboten. Das Prinzip „möglichst nur abgeschlossene Texte” kann bei Romanen, Dramen und Hörspielen nicht eingelöst werden. Heinz Ludwig Arnold besitzt aber auch hier ein so gutes Gespür, daß er die Auszüge aus Romanen meisterlich darbietet. Wer die Romane von Volker Braun, Hans Joachim Schädlich, Günter Grass oder Thomas Bernhard gelesen hat, wird feststellen, treffliche Miniaturen wurden daraus ausgewählt. Wer diese Bücher nicht kennt, wird denken, vortreffliche Lektüre, nun werde ich das ganze Buch lesen.

Im Vorwort zieht der Herausgeber noch einmal die politischen und kulturellen Linien jener Jahre nach. Man hört da aber auch eine leise Ironie: „Die achtziger Jahre waren die letzten, in denen Bundesrepublik und DDR an der Schnittstelle der feindlichen Systeme Kapitalismus und Kommunismus ihre besondere Existenz pflegten. In ihren universalen Nischen lebten sie beide über ihre Verhältnisse und in den Tag hinein.” Es war die Zeit der Perestroika in Moskau, dann kam Tschernobyl, Hoch- und Tiefpunkte der Friedensbewegung. „Politik”, meint Arnold, „wurde zunehmend nur noch simuliert.” Wahrscheinlich besteht Politik in der Neuzeit (d. i. die Spätzeit des 20. Jahrhunderts) immer aus einem Gutteil Simulation. Die Ära Kohl, das hatten manche Leser wohl inzwischen schon wieder vergessen, begann doch mit einem Parteispenden-Skandal. Die Folge war, daß „sich die Öffentlichkeit hinfort kleinlich mit der Bereicherungsmentalität ihres leitenden Personals befaßte”. Und das tut sie gerade wieder, und vermutlich noch heftiger, und gewiß noch folgenreicher.

Die Gängeleien, denen in jenen Jahren die Autoren in der DDR ausgesetzt waren, sind zum Teil aufgearbeitet, zum größten Teil aber längst schon wieder vergessen. Hier wird noch einmal daran erinnert, aber es wirkt doch alles schon sehr verblaßt. Vielleicht liegt es auch daran, daß, nach Heinz Ludwig Arnold, „Simulation und Täuschung” zur Erfahrung der achtziger Jahre in beiden deutschen Staaten gehörten, auch „eine Endzeitahnung, die in Katastrophismus und Überwachungshybris aufscheint”. Man kann dafür einen Begriff wie „Letzte Welten” einsetzten, nur zeigt der Fortgang der Geschichte, daß die letzte Welt von heute morgen schon wieder die letzte ist.

Bei aller Unübersichtlichkeit der politischen und literarischen Lage hat der Herausgeber auch ganz und gar Günter de Bruyn vergessen. Der Roman Neue Herrlichkeit erschien 1984, hätte also im Einleitungsteil dieser Anthologie Erwähnung finden müssen. Allein die Tatsache, daß dieses Buch zuerst im Westen erschien, nachdem es zunächst im Osten wieder eingestampft werden mußte, wäre hervorhebenswert gewesen.

Diese Anthologie ist jedenfalls eine zum Kreuz-und-quer-Lesen, man muß nicht mit dem Jahr 1984 beginnen, auch mittendrin ist Lese-Anfang möglich. Schließlich zählen auch gar nicht so sehr die Jahre, sondern der Atem der Zeit in den Texten, das ist es, worauf es ankommt. Das gilt besonders für Gedichte, denn ein gelungenes, sagte schon Heinrich Heine, ist eins für alle Zeiten, oder wenigstens für einige Jahre. Ulla Hahn („Auf Erden”) sieht gelassen in den Himmel, ihr fallen Vergleiche ein, kalt ist ihr, „und auf die Felder fallen / strenge Metaphern ohne Reim herein”. Die Betrachtende stellt fest: „Wer / keine Heimat hat schaut sich / den Himmel an.” Von der galoppierenden West-Verfettung spricht Ludwig Fels („Freiwilliges Gedicht”): „Jeder ist gemeint, du und ich. / Unsere Armut hat sich verlagert / vom Bauch ins Gehirn ...” Überall wird soziales Abdriften registriert. Karl Krolow („Etwas, das uns betrifft”) notiert: „Man denkt nicht mehr des Nachts / an dieses Land. Man spürt es / in den Knochen. Beinah / kommt Mitleid auf. / Es soll doch alles gut gehen / wie in den Fünfzigern ...”

Aus Thomas Bernhards Alte Meister nur zwei Druckseiten auszuwählen ist auch schon wieder Kunst. Und hier ist von der paradoxen Kraft die Rede, „die Welt zur Karikatur zu machen”; dies ist die „einzige Überlebenskraft”, heißt es beim sarkastischen Bernhard. Hans Joachim Schädlichs Ostberlin zeigt noch das damalige Nebeneinander, deutet aber schon hin zum jetzigen Miteinander der dubios verschlungenen Welten. Von der bereits 1966 gestorbenen Inge Müller wird das 1985 aus dem Nachlaß veröffentlichte Gedicht „Wir” abgedruckt, es sind böse Erinnerungen an das Deutschland vor dem letzten Weltkrieg. Auch Botho Strauß nimmt dieses Motivfeld auf: „Kein Deutschland gekannt zeit meines Lebens./ Zwei fremde Staaten nur, die mir verboten, / je im Namen eines Volkes der Deutsche zu sein. / Soviel Geschichte, um so zu enden?”

Zu den gesamtdeutschen Erschöpfungszuständen in der Literatur gehören auch labyrinthische Erfindungen. Walter Helmut Fritz orakelt bei dieser Gelegenheit: „Der Bau ist zu weit fortgeschritten, als daß wir etwas rückgängig machen könnten. Auch kennen wir uns kaum in ihm aus. Die Wege, die wir in ihm gehen, enden nirgends. Es ist nicht einmal klar, ob wir uns wenigstens den einen Ausgang offengelassen haben, den es in früheren Labyrinthen gab.” Um wieder freier atmen zu können, setzten die Autorinnen, in Ost wie in West, auf den Sommer. Zur Erinnerung, die achtziger Jahre hatten gleich mehrere berauschende Jahrhundertsommer geboten. Bei Christa Wolf wurde daraus ein melancholisches Sommerstück, Gespräche vom ungewissen Heute, vom Sicheren und vom Unsicheren. Gabriele Wohmann beschreibt einen „Russischen Sommer”; bei Helga M. Noack sind es die Steine, „die rollen und ziehen und wollen alle auf einmal / hinunter in den engen Hals mitten im Sommer ...”

Mal herrscht das Leben, dann wieder obsiegt die Erinnerung. Die Ölpest ist beides, zu allen Jahrzehnten. Die Unterwelt der Umwelt, das war auch das Thema bei Günter Grass und seiner „Rättin”: „Mir träumt, ich müßte Abschied nehmen / von allen Dingen, die mich umstellt haben ...”

Die Autoren jener Jahre denken an Mythos, Jahreszeit, Beton, Einheit und Freiheit, an Zerstörung und an sich selbst. Martin Walser in Meßmers Gedanken: „Von allen Stimmen, die aus mir sprechen, ist meine die schwächste ... Mich verändert alles. Ich verändere nichts.” Zur mühevollen Schreibarbeit äußert sich Friederike Mayröcker, und Ernst Jünger kennt längst die literarischen Abgründe, weiß aber, daß der Autor, auch „der gute Autor” - „immer noch etwas in Reserve hat”. Da ist eine Hoffnung, die dem Leser aller noch bevorstehenden Zeiten bleibt.

Und wer Erich Loests Roman Fallhöhe noch nicht gelesen hatte, bekommt aus dem Jahre 1989 einen kecken Nachschub gereicht. Da fragt innerhalb einer Gesprächsrunde jemand aus dem Publikum: „Was geschieht, wenn die Mauer plötzlich fällt?” Die Antwort von damals: „Dann bräche die Wirtschaft der DDR nach drei Tagen zusammen und die der Bundesrepublik in einem Monat.”

Was allemal, groß und klein, nebensächlich oder wesentlich, dazugehörte, wird hier noch einmal erinnert. Der graue, eintönige Ost-Mief von Wulf Kirsten („Lebensspuren”), der spießige, satte West-Mief von Peter Maiwald im Gedicht „Der Untergang der Welt in der Gaststätte in Hasenberg”. Für Gert Neumann, den stillen, den schwierigen Erzähler im alten Osten, hat sich Ende 1989 „die Poetik des Schweigens” bereits eingestellt, während mancher Kollege im Westen noch mit Medusa spricht oder selbsterschaffene Orakel im Hinterzimmer befragt. Ob Ost, ob West, die Unterschiede sind doch geringer, wie diese Anthologie zeigt, als manchmal vermutet wurde. Es gab sie längst, es gab sie immer, die einheitliche deutsche, teils spannende, teils langweilige Literatur. Nur, daß dem einen längst grauer Hohlraum war, was dem anderen noch wie ein Gang zu den Müttern scheinen wollte. Täuschungen, Simulationen, Endzeitahnungen. Es gibt kaum etwas, das nicht zu Ende geht. Auch der „Fortschritt in der Chaosforschung”, wie Hans-Ulrich Treichel meint: „Oder gehören Sie etwa auch / zu den Leuten, die bei jedem Schuß bluten. / Pflanzliche Fette, rate ich Ihnen, / und tierische Intelligenz. / Doch alles in Maßen / und immer den Kopf schief. / Der Rest ist ganz leicht.”


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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