Rezension von Rudolf Kirchner


 

Provokante Wortmeldungen
Hannah Arendt: Zur Zeit
Politische Essays.
Rotbuch Verlag, Hamburg 1999, 230 S.
 

Jedes Buch von Hannah Arendt steckt voller Überraschungen. Diese Sammlung ihrer Wortmeldungen zu aktuellen Zeitproblemen, von der Berliner Publizistin Marie Luise Knott herausgegeben und mit einem Nachwort versehen, umfaßt Beiträge aus den Jahren von 1943 bis 1975. Der bereits 1986 erschienene Band wurde aktualisiert und erweitert. Will man die angesprochenen Probleme gruppieren, so kann man das „deutsche Problem” („Wir Flüchtlinge”, „Das ,deutsche Problem‘”, „Besuch in Deutschland”), Aussagen über die amerikanische Lebenswelt („Little Rock”, „Ziviler Ungehorsam”) und globale Fragen („Europa und Amerika”, „200 Jahre amerikanische Revolution”) unterscheiden.

Wie immer bei Hannah Arendt wird der Leser mit Überlegungen und Argumentationen konfrontiert, die ihn provozieren. So geht die Autorin - im Unterschied zu vielen anderen Darstellungen des Nationalsozialismus - davon aus, daß der Nazismus „ohne jegliche Traditionsgrundlage” begonnen hat und daß gerade diese radikale Negation jeglicher Tradition besonders gefährlich sei. Danach war es nicht irgendeine besondere deutsche Tradition, die zum Nationalsozialismus geführt hat, „sondern die Verletzung aller Traditionen”. Übrigens ist im Anhang ein wiederentdeckter Teil des Essays „Das ,deutsche Problem‘” abgedruckt, der 1945 unter dem Titel „Das ,deutsche Problem` ist kein deutsches Problem” in der Exilzeitung „Das andere Deutschland” in Argentinien erschienen ist.

Angesichts der Erfahrungen mit der Berliner Mauer zwischen 1961 und 1989 klingen die Mahnungen der Autorin aus dem Jahre 1945 geradezu prophetisch, wonach es völlig unrealistisch sei, „Mauern zu errichten, die eine Nation gegen die andere abschließen und die wechselseitige Einwirkung der ideologischen Kräfte verhindern” könnten.

Empfehlenswert ist der Beitrag „Besuch in Deutschland”, der nach einer ersten Reise ins Nachkriegsdeutschland zwischen November 1949 und März 1950 entstand. Hannah Arendt entdeckt und beschreibt dabei eine Realitätsflucht der Deutschen, die sie erschreckt. Viele Charakteristika, die sie anführt, lesen sich heute wie Einsichten aus den Jahren nach 1989.

Intensiv befaßt sich Hannah Arendt mit inneramerikanischen Entwicklungstendenzen, wenn sie Haltung zu den Ereignissen in Little Rock bezieht, wo es zu scharfen Auseinandersetzungen um gemeinsame Schulen von Weißen und Schwarzen gekommen war. Daß sie es für notwendig erachtete, einleitend ein Bekenntnis abzulegen, daß ihre Sympathien als Jüdin selbstverständlich der Sache der Neger wie der aller unterdrückten oder unterprivilegierten Völker gelten, verdeutlicht die Schärfe der damaligen Polemik. Die stärker globalen Überlegungen durchziehen die verschiedenen Beiträge. Dabei geht die Autorin Mitte der siebziger Jahre von der Möglichkeit aus, daß wir an einem jener Wendepunkte der Geschichte stehen, wo ganze Epochen voneinander geschieden werden - nur, daß es die Zeitgenossen zumeist nicht bemerken. Ihr erschien es jedoch bemerkenswert, für dieses 20. Jahrhundert festzustellen, daß es vielleicht das erste sei, „in welchem der Wandel der Bewohner im Tempo weit hinter der raschen Veränderung der Dinge dieser Welt hinterherhinkt”.

Hannah Arendt ist eine unbequeme Autorin. Im Sinne einer klassischen Aufklärerin fordert sie das Selbstdenken heraus, provoziert den Widerspruch und damit das Weiterdenken. Das gelingt ihr nicht nur in ihren großen Arbeiten über den Totalitarismus, über das tätige Leben oder über die Revolution. Das findet man auch wie hier in ihren „kleinen” Beiträgen.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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