Rezension von Friedrich Schimmel


 

Ein bizarres Lexikographen-Leben
Simon Winchester: Der Mann, der die Wörter liebte
Eine wahre Geschichte.
Aus dem Englischen von Harald Stadler.
Albrecht Knaus Verlag, München 1998, 284 S.
 

Der Brite Simon Winchester hat eine wahrlich erstaunliche Lebens- und Wörter-Gechichte entdeckt. Hat einen der fleißigsten Mitarbeiter am berühmten Oxford English Dictionary in den lange unter Verschluß lagernden Akten ausfindig gemacht, und die Geschichte, die er ausführlich und mit nie nachlassender Spannung erzählt, hat Esprit, verwundert und überrascht, versetzt den Leser in ganz gegensätzliche Welten. William Chester Minor, so heißt der 1834 in Ceylon geborene „Held” dieses Buches, entstammte einer reichen amerikanischen Familie. Um den Sohn von allzuviel „schlüpfrigen Gedanken” abzubringen, schickt ihn der Vater nach Amerika. In Yale studiert Minor Medizin, gleich nach der Promotion 1864 begibt er sich als Freiwilliger in den amerikanischen Bürgerkrieg. Was mit Begeisterung begann, endet mit Verletzung, Demütigung, innerer Aufruhr. Einmal bekommt er den Befehl, einem Iren, der nach der Fahnenflucht wieder eingefangen worden war, ein „D” wie Deserteur in die Backe zu brennen. Ein Ereignis, das Folgen haben wird. Denn von nun an fühlt sich Dr. Minor verfolgt, von allen und allem, vor allem aber von Iren. 1871 geht er nach London, nimmt sich im verrufenen Lambeth ein Zimmer und leidet weiterhin unter der Verfolgung von Iren. Zuvor war Minor als „dienstunfähig aufgrund der Ausübung seiner Pflichten” aus der amerikanischen Armee entlassen worden. Überall plagen ihn Gespenster, Ungeheuer, nächtliche Gestalten. So fangen Krimis an. Und diese Spannung nutzt Simon Winchester gleich zu Beginn seines Buches geschickt aus. Das erste Kapitel „Samstagnacht in Lambeth Marsh” schildert die Umstände eines Mordes. Dr. Minor, noch immer auf der Flucht vor bedrohlichen Gestalten, erschießt „in der mondhellen Nacht zum 17. Februar 1872 kurz nach zwei Uhr” mit einer Salve von drei Revolverschüssen einen Mann auf dem Weg zur Arbeit. Der Täter wird sofort gefaßt, und als sich herausstellt, daß es ein Amerikaner ist, wird daraus ein geradezu „internationaler Zwischenfall”, den diplomatische Mühen wieder glätten müssen.

Dieser Mord also, willkürlich und zufällig, hatte keine politischen Folgen. Seine Folgen lagen auf einem ganz anderen Gebiet, dem der Lexikographie. Vom Mord zum Wort. In diesem Falle - Minor kommt nach seinem Freispruch in eine Irrenanstalt - wird danach für den Täter alles ganz anders. Und das ist der zweite, der Hauptteil dieser Geschichte und eines ergötzlich-spannenden Buches. Doch bevor dieser Teil richtig in Gang kommen kann, wird eine zweite Hauptfigur eingeführt. Es ist der Philologe James Murray, der das Projekt eines ausführlichen und umfassenden „Neuen englischen Wörterbuchs” nach langer Vorgeschichte schließlich vollenden wird. Ein Mann ohne große Ausbildung, ein besessener Autodidakt, ein Mann, der unermüdlich der Bedeutung von Wörtern nachzuspüren gewillt war, ein geborener Lexikograph. Ein Wort-Mensch. Sein Fleiß trug Früchte. War er als Kind darauf aus, ob die Kühe in seinem schottischen Heimatort auch auf lateinische Kommandos hörten, brachte er es später zu erstaunlicher Vertrautheit mit mehr als zwanzig Sprachen. 1878 beauftragte ihn die Londoner Philological Society mit der Leitung am großen Wörterbuch, dem späteren und berühmten Oxford English Dictionary. Er dirigierte ein Heer von Mitarbeitern und ein Meer von Zetteln. Sein Aufruf an alle Leser in England erreicht auch William Chester Minor, der Mann, der auf Anraten seiner Ärzte nach England gekommen war, „um sein Gemüt zu beruhigen”.

Wir wissen, es war nur möglich über den Umweg einer Mordtat. Acht Jahre nach den nächtlichen Schüssen beginnt Minor als freiwilliger Mitarbeiter beim Sammeln charakteristischer Belegstellen für das große Wörterbuch. Er genießt in der Anstalt für Geisteskranke, in Broadmoor, Privilegien: bewohnt zwei Zellen, umgeben von vielen alten und wertvollen Büchern, die er sich, über ein Geldvermögen verfügend, aus London schicken läßt. Es ist das Leben eines Bücher-Narren, der nirgends besser als hier in dieser „friedlichen” Welt leben und arbeiten kann. Regelmäßig erhält er vom „Chef” James Murray neue Aufträge, ebenso regelmäßig und rasch schickt er seine Zettel zurück. Das geht so mehr als zwei Jahrzehnte hin und her. William Chester Minor beliefert die Stuben des Oxford English Dictionary mit weit über zehntausend verwertbaren Wortbelegen aus der Literatur. Eine phänomenale Leistung. Nicht etwa nur von Minor, sondern auch ganz besonders von Murray, eine Pioniertat, die hier ausführlich dargestellt wird. Wir sehen unermüdliche Bücher-Würmer, den immensen Fleiß zweier Lexikographen. Ihre Arbeit: Mengen, Größen, Bücher über Bücher, unendlich lange Listen und Zettel über Zettel, eine Welt, die Leser in Stimmung versetzen kann. Simon Winchester beschreibt alle Arbeitsschritte genauestens. Ganz wichtig bei dieser Sammeltätigkeit ist die Definition: „Wörter richtig zu definieren ist eine ganz besondere Kunst. Dabei sind bestimmte Regeln zu beachten. Zunächst definiert man ein Wort (beispielsweise ein Substantiv) in bezug auf die Objektklasse, die es bezeichnet (etwa: Säugetier, Vierfüßer); danach unterscheidet man weiter innerhalb dieser Klasse (etwa: Rind, weiblich). Die Definition darf kein Wort enthalten, das komplizierter oder womöglich noch weniger bekannt ist als das Wort, das definiert werden soll. Die Definition muß klar aussagen, was etwas ist - und nicht, was es nicht ist.”

Präzise, methodisch zielgerichtet, unterhaltend und allemal auch belehrend, das ist der Stil des Autors Simon Winchester. Auch hat er versucht, die persönliche Begegnung dieser beiden Männer nachzustellen. Nach so vielen Jahren, insgesamt vierundzwanzig, war die Spannung groß, die Neugierde Murrays auch ungebremst, wie jener Minor wohl aussehen und wie er leben werde. James Murray hielt seinen Zuarbeiter zunächst für einen literaturbesessenen Landarzt. Der seltsamen Adresse nach schien dies die richtige Erklärung zu sein. Doch dann macht er sich auf den Weg nach Broadmoor, denn er hat herausgefunden, daß sich dahinter die Anschrift einer großen Irrenanstalt befindet. Die ungewöhnliche Begegnung beider Männer findet schließlich im Januar 1891 statt. Was die beiden Photos im Buch bestätigen, es war eine „Begegnung verwandter Seelen” (Winchester), denn: „Sie sahen sich erstaunlich ähnlich. Beide waren groß, hager und glatzköpfig. Beide hatten tiefliegende, blaue Augen ...” Amüsant schildert Winchester die Bärte beider Männer, aber worauf es ihm vor allem ankommt, da sprang ein Funken über, von beiden Seiten, der diese sonderlich-fleißigen Wort-Sammler miteinander verband. Ihn doch noch aus der Irrenanstalt herauszubekommen, das schafft Murray nicht. Mutlos und verbittert nimmt sich Minor das Leben. So endet eine verwickelte, eine verwinkelte, zugleich eine seltsame und einmalige Lebensgeschichte. Simon Winchester hat sie wunderbar recherchiert und mit Lust und Liebe erzählt. Entstanden ist ein „Roman”, den das Leben erzählt. Wunderbar, spannend, märchenhaft, ein bizarres Spiel der Vor- und der Zufälle.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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