Rezension von Bernd Heimberger


 

Tendenz Traurigkeit
Mario Wirz: Umarmungen am Ende der Nacht.
Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 189 S.
 

Umarmungen am Ende der Nacht gibt's bereits in der ersten Geschichte („Trost von Fremden”). Dann gibt's die Geschichte „Der Andere” und danach die Geschichte „Umarmungen am Ende der Nacht”, die dem jüngsten Band des in Berlin lebenden Mario Wirz den Titel gibt. Wirz ist ein vom Aufbau-Verlag in den neunziger Jahren gut eingeführter und geführter Autor. Konsequent wie kein anderer deutscher Schriftsteller hat er das Thema Aids zum Thema seiner Literatur gemacht. Ist es damit vorbei? Die zehn Geschichten des Buches ignorieren das Thema nicht, sind aber nicht d a s Thema. Grob gesagt: Erzählt wird von Beziehungen, die Schwule haben, das heißt von den Schwierigkeiten, ein Schwuler zu sein. Wirz' Hauptfiguren heißen Stefan, Robert, Uwe, Arn, Mirko ... und sind nicht nur Figuren, die in der einen oder anderen Geschichte auftauchen. Von Geschichte zu Geschichte werden die Biographien bunter, bewegter, also auch bewegender.

Umarmungen am Ende der Nacht ist die literarischste Leistung des Schriftstellers, dessen Prosa immer auch dem Berichtenden, Dokumentierenden verpflichtet war. In einigen Teilen sind das auch die Geschichten des neuen Buches. Obwohl eindeutig als „Erzählungen” ausgewiesen, sind sie nicht eindeutige Erzählungen. In ihrer Reihenfolge formieren die Geschichten einen Roman, den Wirz nicht geschrieben hat. Dennoch: Kein Prosabuch des Autors ist so erzählerisch-romanhaft. Die Reihenfolge der Geschichten ist eine Komposition, die aus dem Buch einen Roman in Erzählungen macht. Der Geschichten-Zyklus liefert eine Serie von Szenen, die von Betrogenen und Betrügern, Gejagten und Jägern, Gedemütigten und Demütigern erzählt. Wieder und wieder ist der Widerstand gegen alles zu spüren, was hinabzieht, spürbar aber auch, wie schnell der Widerstand gegen das Hinabziehende aufgegeben wird. Der Schriftsteller singt Verlierern und Verlorenen so manches schöne Solo. Manchmal mimt der Erzähler den Dramatiker, der dramatisiert, wo das Drama noch nicht stattgefunden hat und eventuell nicht stattfindet.

Für die Figuren bei Wirz ist immer alles Drama, wie immer alles zuerst mit ihren Gefühlen zu tun hat. Den gehabten und nichtgehabten, den gezeigten und nichtgezeigten. Vor allem den vorgetäuschten Gefühlen. Der Betrug der Gefühle grassiert, wo und wenn Menschen ihre Liebe nicht leben. Ein Grund, gewissenlos zu werden? Ein Grund, sentimental zu werden? „Es gibt keinen Grund, sentimental zu werden”, heißt es in der Geschichte „Umarmungen am Ende der Nacht”. Um nicht gewissenlos zu werden, werden viele Gefühlsbetrogene und -betrüger sentimental. Nicht selten ist Sentimentalität der Hauptgrund für Handlungen in den Geschichten. Traurigkeit ist die durchgängige Tendenz. Sentimentalität der Falschmünzer. An mancher Verfälschung hat der Autor nicht geringen Anteil. Selbstverführt verdirbt er gelegentlich die Texte durch sentimentale, kitschige Stellen. Dann, wenn er von „unsittlichen Attentaten” spricht. Wenn er schreibt: „Der zarte Mädchenjunge von ungewöhnlicher Schönheit”, „Ich presse sie stürmisch an mich”. Wird Geschmack verdorben, wenn Gefühle fehlen oder umgekehrt? Oder sowohl als auch? Soviel Wirklichkeit schwulen Seins in der Geschichtenfolge ist, häufiger wird von der Wunsch-Wirklichkeit der Schwulen erzählt, die soviel homosexuelle Wirklichkeit ausmacht. Im Beschreiben der Wunsch-Wirklichkeit ist Mario Wirz in seiner Prosa am poetischsten. Dem poetischen Prosaisten gelingt es, eine Stricher-Story mit dem Satz zu beginnen: „Oma hatte sich in der Nacht in eine Taube verwandelt.” Gelingt so was, sind die Geschichten unsentimental und stark wie ihre Gefühle.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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