Rezension von Hans Wiesner


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Eine nuancenreiche Familiengeschichte

 

Linn Ullmann: Die Lügnerin
Roman.
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs.

Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München 1999, 320 S.

 

Eine raffiniert konstruierte Familiensaga hat „Der Spiegel” den Romanerstling der 1960 in Oslo geborenen Linn Ullmann genannt. Man könnte hinzufügen: Es ist eine ebenso heitere wie traurige, poetisch-überhöhte wie satirisch zugespitzte, vor allem eine schonungslos offene gesellschaftskritische Geschichte. Beim Lesen fühlt man sich an die Stimmung in Filmen wie „Szenen einer Ehe” oder „Herbstsonate” erinnert - Filme von Ingmar Bergman, in denen Liv Ullmann eine Hauptrolle spielte. Vielleicht ist das familienbedingt. Linn Ullmann, die auch als Literaturkritikerin für die renommierte norwegische Zeitung „Dagbladed” arbeitet, ist die Tochter der beiden. „Mich gibt es in diesem Buch an tausend Stellen”, hat die Autorin gegenüber dem „Stern” erklärt. Aber es ist deshalb kein autobiographischer Roman geworden, natürlich auch keine Familiengeschichte der Bergman-Ullmanns. Saga ist schon das richtige Wort für diese weitverzweigte Vier-Generationen-Story: wahres Geschehen und Legende, umgeformte, zu etwas Neuem verdichtete Realität.

Die Ich-Erzählerin heißt Karin. Sie ist 20, als der bis 1931 zurückgreifende Roman im Sommer 1990 einsetzt, modebewußt und illusionslos; eine, die gut sein möchte, aber auch tückisch sein kann. Sie nennt sich „die Lügnerin”, weil sie schon früh erfahren hat, daß Lügen bequem sein kann. Aber auch - und vor allem - weil lügen - oder treffender: verfremden - ihr bzw. der Autorin besser gestattet, die Wahrheit zu sagen, eine tiefere Realität aufzuspüren. Karins Mutter ist Annie. Sie „ist das, was man als unwiderstehliche Frau bezeichnen könnte. Die Männer sagen ihr das immer.” Aber sie verlassen sie auch immer wieder. Annie trinkt, um zu vergessen, vor allem Karins Vater, der eines Morgens aus der gemeinsamen Wohnung in der Trontheimer Jacob Aalls Gate auszog. Familienvorbild, um das sich viele Erzählungen und Erinnerungen ranken, ist Großvater Rikard Blom, der vor drei Jahrzehnten beschloß, sein Glück in Amerika zu suchen, und der 1945 in einer Urne ins heimatliche Norwegen zurückkehrte. Und da sind die lebenslustige Großmutter June sowie die enttäuschte, stets etwas griesgrämige Großtante Selma; da ist Karins drei Jahre ältere Schwester Julie, die immer ein bißchen traurig ist, vor allem über ihre seit Geburt leicht entstellten Füße, und die gleich auf den ersten Seiten ihren Aleksander heiratet und bald darauf Sohn Sander bekommt, der schließlich von seiner Tante, eben der Ich-Erzählerin Karin, betreut wird, was sozusagen den Rahmen fürs Ganze abgibt.

Dazwischen spielt sich die „raffiniert konstruierte” Geschichte eigentlich in fünf Miniromanen ab. Der erste, „Hochzeit August 1990” überschrieben, spielt am Tag der Trauung von Schwester Julie und Aleksander, an dem Karin einen fiktiven Dialog mit dem Pfarrer über die Verlogenheit bürgerlicher Ehe führt, uns Vater und Mutter, Onkel und Tanten vorstellt und beschließt, einen der Gäste zu verführen. „Diesen Mann will ich, und ich will ihn noch heute abend, ehe das Hochzeitsfest zu Ende geht.” Dazu kommt es nicht, aber aus den geschickt gestreuten Einblenden erfährt man fast die ganze Kindheitsgeschichte Karins. Im zweiten Kapitel, „Tage 1990 bis 1997”, geht es um den Zerfall der Ehe von Julie und Aleksander und vor allem um die erfolgreichen Verführungskünste Karins: Zuerst Billy, den sie im Supermarkt kennenlernt und der gern öffentlich, auch in einem Baumhaus, mit ihr schläft. Dann Carl aus dem Osloer Theatercafé, mit dem die erste Nacht fünf Tage dauert und der zum Fisch-Menschen mutiert, als sie ihm seine roten Cowboy-Stiefel wegnimmt. Schließlich Dag, dem sie noch am zweiten Abend verspricht: „Ich kann dich zärtlicher vögeln, als dich je eine andere gevögelt hat”, was der allerdings mit übermäßigem, schlapp machendem Biergenuß belohnt. Die dritte Geschichte, „Amerika”, handelt davon, wie die Großmutter den Großvater nahm, genauer gesagt, ihn ihrer Schwester Selma bei einem Besuch in New York wegnahm. Worauf dieser so glücklich ward, daß er nur noch wunderschöne Damenkostüme schneiderte, die beiden Schwestern aber Feinde wurden, die sich bei der Heimkehr per Schiff um die Asche des Geliebten stritten. Die vierte Geschichte, „Gesichter”, ist die wohl kritischste und düsterste. Es geht um den verschwenderischen Schuh-Tick der Marcos-Gattin Imelda und das Geschäft mit Milchpulver in Asien und mit frischem Kinderblut in den „Mutterländern”; um den damit befaßten Schönheitschirurgen Dr. Preston, dem Mutter Annie in die USA folgt und der ihr Gesicht und Persönlichkeit zerstört. Das fünfte Kapitel, „Sander 1998”, führt uns Karin als Ersatzmutter ihres kleinen Neffen vor, weil Schwester Julie und ihr Mann Aleksander in Italien „ein neues Leben” beginnen, sich alles verzeihen wollen, was sie sich Schlimmes angetan haben. Denn: „Auch die Hölle muß möbliert werden.”

Vielleicht ist das der Sinn dieses Buches: Man muß auch schlimme Verhältnisse noch irgendwie menschlich gestalten. Die Hoffnung hört an keinem Ort auf. So gesehen, ist es nicht nur ein metapherreicher, stimmungsvoller, zuweilen vergnüglicher, zuweilen trauriger Roman, sondern auch ein lehrhafter und lehrreicher, der das Zeug dazu hat, ein großer Erfolg zu werden.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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