Rezension von Licita Geppert


 

Zeit zu leben
Georg Precht/Richard Precht:
Das Schiff im Noor
Roman.
Limes Verlag, München 1999, 535 S.
 

„Irgendwo hier unter dem Sand lag ein fast zweihundert Jahre altes Schiff. Aber wen interessierte das noch. Bald waren die letzten tot, die noch davon wußten, und die Geschichte fand ihren Frieden. Der heimliche Beobachter würde den Schauplatz wieder verlassen haben, und die letzten Planken im Noor werden verrotten, und die Kühe trampeln darüber hinweg wie seit Jahrhunderten schon, und die Sage wird sich verflüchtigen und erst viel später von einer Lehrerin oder Schriftstellerin wieder in einem Märchenbuch eingefangen werden. Und wahrscheinlich war das alles gut und richtig so.” Märchenhaft sind die Züge dieser Geschichte und des daraus entstandenen Romans tatsächlich, der - obwohl von zwei Autoren verfaßt - so wunderbar aus einem Guß ist, wie ich selten ein Buch erlebt habe. Es ist nicht auszumachen, welche Stellen der eine oder der andere der Brüder verfaßt haben könnte oder ob der eine für den Handlungsverlauf und der andere für das Schreiben zuständig gewesen wäre. Dieses Buch lebt von einem Gefühl der Zeitlosigkeit, einer Stimmung, die von Anfang bis Ende konsequent durchgehalten wird und die fabelhafterweise von der Vergangenheit bis in die Gegenwart reicht. Nur an einer einzigen Stelle wird diese Regel durchbrochen: bei der Auflösung des rätselhaften Falles, der eigentlich keiner war, oder vielleicht doch?

Es ist das Jahr 1809. In einer stürmischen Nacht strandet ein Schiff im Noor der kleinen dänischen Insel Lilleo. Nur ein einziger Angehöriger der Besatzung lebt noch, aber die Bauern der umliegenden Gehöfte können oder wollen ihm nicht helfen. Der Überlebende verschwindet in aller Stille, und so entsteht in jener Nacht die Legende vom Schiff im Noor und seinem Schatz, die der junge Kriminalassistent beim Kommissariat für Gewaltverbrechen in Kopenhagen, Ansgar Jorgensen, im Mai 1985 zu hören bekommt, als er aufgrund eines absurden Erlasses für ein halbes Jahr zur „Assimilationsschulung zur Stärkung der Orientierungsleistung wahrnehmungsgeographischer Akkomodationsprozesse” nach Lilleo entsandt wird. Sein wacher Verstand sucht Beschäftigung auf dieser Insel, auf der die Zeit stehengeblieben zu sein scheint. So ist es vielleicht noch als Berufskrankheit zu werten, daß er hinter dem Tod eines Sonderlings mehr vermutet als einen natürlichen Todesfall. In den Augen der Inselbewohner löst allein seine bloße Anwesenheit die wildesten Spekulationen aus. Der letzte unnatürliche Todesfall liegt jedoch über zweihundert Jahre zurück, und nach Ansicht des ortsansässigen Ordnungshüters, des gemütlichen Polizeikommissars Malte Hansen, wird es wohl auch weiterhin so bleiben. Da die Insel wenig spektakuläre Fälle verspricht, beauftragt Malte seinen jungen Kollegen mit dem Aufräumen des „Polizeiarchivs”, einer Mischung von Effekten und Akten in einer uralten Rumpelkammer.

Ansgar Jorgensen macht sich daran, die versammelten Zeitzeugnisse zu sichten, zu sortieren und zu ordnen. Ähnlich wie diese Effektenkammer stellt der Roman den gelungenen Versuch dar, die Zeit festzuhalten. Hinter jedem Artefakt verbirgt sich nach Art der russischen Matrjoschkas eine Geschichte, und in dieser eine weitere, in der wiederum eine Geschichte versteckt ist: „... eine Geschichte, die zwei Menschenalter zurückliegt und in einer anderen Zeit, in einer anderen Welt spielt - nun, spielt ist wohl nicht richtig ausgedrückt-, die sich ereignet hat, zugetragen hat, die Geschichte eines seltsamen Mannes und seiner Freundschaft zu einem kleinen Jungen und eines anderen Mannes, der gekommen war und einen Frieden störte, oder, man kann sagen, der einen Spuk beendete und damit das Schicksal des Jungen besiegelte, damals, in einer schrecklichen Nacht. Und schließlich die Geschichte eines Polizisten, der versucht hatte, die Welt wieder in Ordnung zu bringen, was ihm aber nicht mehr gelang.” All diese Verbindungen gibt das Buch nur tropfenweise preis, und Ansgar, der sich in seinem urigen Inseldomizil schnell wohl zu fühlen beginnt, bewegt sich auf den Spuren jenes Polizeimeisters, der in den zwanziger Jahren einen rätselhaften Todesfall ergebnislos untersucht hatte, der ihn in letzter Konsequenz auch wieder zu dem Schiff im Noor führen sollte. So wohnt jedem Ding eine eigene Bedeutung inne, eine zeitliche Dimension. Gemeinsam mit Malte Hansen beginnt der Leser sich zu fragen, „ob die neuen Dinge überhaupt die Qualität haben würden, um in Würde altern zu können”. Hier wird das eigentliche Anliegen der beiden Autoren deutlich. Es geht nicht darum, die Vergangenheit aus purer Nostalgie zurückzusehnen, sondern um den Verlust an Werten und eigentlicher Lebensqualität. So ist die ganze Geschichte ein Vorwand für lebensphilosophische Betrachtungen, berechtigte Zivilisationsschelte, die Rückbesinnung auch auf sich selbst, auf inneres statt äußeres Leben. Die Autoren nehmen sich Zeit für Naturbetrachtungen oder auch Abschweifungen in die Geschichte von Wissenschaft und Technik, die nicht nur interessant, sondern auch spannend sind und mitunter sogar dem Handlungsverlauf dienen. Noch nie habe ich erlebt, daß ein Schriftsteller die sprachlichen Bilder, die er aufbaut, so unbeirrbar über die ganze Szene durchhält wie in diesem Buch. Schöner Nebeneffekt dieser Gestaltungsmethode sind humorvolle Schilderungen. Es gibt eloquente Wortgefechte und überraschende Szenenwechsel, aber eben nur innerhalb einer gemächlich voranschreitenden Handlung. Wer die Muße aufzubringen bereit ist, drei Seiten zu lesen und dann für Minuten oder länger verträumt in eigene Betrachtungen zu versinken, das Gelesene auf sich wirken zu lassen und die wohltuende Stimmung in den Alltag hinüberzuretten, der wird einen Roman erleben, der durch sprachliche Schönheit, Eleganz und Gestaltungskraft besticht, dem trotz seiner Gemächlichkeit durchaus Spannung innewohnt, der im besten Sinne unterhaltsam ist.

Hervorgehoben sei außerdem, daß dieser Roman nie in selbstgefällige Wortakrobatik oder intellektuelle Konstrukte abgleitet, sondern von außerordentlichem Erzähltalent und Freude am geschmeidigen, aber bodenständigen Umgang mit der Sprache zeugt. Die Lösung des Kriminalfalles, der unter den Schichtungen von Historie und Histörchen zutage tritt, liegt in abenteuerlichen großmachtpolitischen Verwicklungen ebenso wie in der Sehnsucht einiger Nachgeborener nach Erlösung aus der Freudlosigkeit des Alltags. Aber sie ist im Grunde unwichtig, eher störend, da sie die Endlichkeit eines Buches zu einem unendlichen Thema nahelegt und den Leser wieder in die Gegenwart entläßt, wo „das Licht in der Scheune von Ellehaven nur noch ein winziger leuchtender Punkt ist, der durch die Büsche schimmert, wie in jener finsteren Nacht vor 180 Jahren, als das Schiff in die Bucht getrieben war, als die Geschichte begonnen hatte, diese winzige, lächerlich kleine Geschichte, die in einer Walnußschale Platz hatte, aber in der doch die ganze, die große Geschichte der Welt mit all ihrer Erhabenheit, ihrem Schmerz, ihrem Dreck und ihrer Komik eingeschlossen war”. Möge dieser Roman die Zeiten überdauern!


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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