Rezension von Gret Hofmann


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Kindheits-Erinnerungs-Splitter

 

Bernd-Lutz Lange:
Magermilch und lange Strümpfe

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999, 213 S.

 

Das sind Kindheits-Erinnerungs-Splitter des 1944 geborenen Sachsen. Daß Kabarett sein Metier ist, merkt man vielleicht an den Wortspielen im Text oder an den Pointen der Kapitel (die ich „Splitter” nenne - es sind immerhin auf 213 Seiten 48 Kapitel!), und hin und wieder gibt es eine spritzige oder bissige Formulierung. Eine heiter-beschauliche Tonart beherrscht das Ganze jedoch so stark, daß man Kabarettist und Autor nicht unbedingt identifizieren muß.

Er erzählt genau, Ausdrücke, Wendungen, Namen sind ihm wichtig. Er berichtet vor allem das, was heutige Kinder gar nicht kennen: Es beginnt mit Bombennächten und setzt sich fort mit der Beschreibung der verschiedenen Möglichkeiten, in der Zeit der Not dem Hunger ein Schnippchen zu schlagen. Er weiß, wie diese für heute sonderbaren Gerichte auf Sächsisch hießen und woraus sie bestanden. Er erinnert an das „Hamstern” und das „Stoppeln”, an das Karnickel auf dem Balkon, die Trockenklos und das Baden in der Küche. Er erzählt von Kinderspielen, die heute vergessen sind. Die Autos beherrschten noch nicht die Straßen, der Handwagen war ein gängiges Transportmittel, es gab Milchkannen (vor allem für die Magermilch) und Lebensmittelkarten, auch die Jungen trugen Leibchen mit langen Strümpfen, und die Stadtoriginale von Zwickau sind Bernd-Lutz Lange genauso gegenwärtig wie die Familien der Nachbarn oder später die Lehrer. Anfangs war er ein gläubiger Junger Pionier und wollte sogar FDJ-Sekretär werden, aber das gab sich.

Der Grundtenor der meisten Splitter ist: Es war trotz Mangels und später trotz Diktatur eine schöne Kindheit - man spielte, genoß die Natur und die Jahreszeiten, war neugierig, hielt zusammen. Wirkliche Opfer staatlicher Repressionen kamen aus dem Bekanntenkreis. Lange selbst erlebte halt die Schule, wie sie war: mit guten und schlechten Lehrern, bornierten Genossen und einem sehr anständigen.

Das Ganze ist getragen von (etwas spießiger?) Beschaulichkeit. Man könnte jedes der einzelnen Kapitel auch als ein für sich stehendes Feuilleton bezeichnen, aber da fehlt den meisten dann doch noch Prägnanz und das Besondere. Die Betrachtungsweise folgt ganz dem heute Erlaubten und Gängigen. Es gibt keine Höhepunkte, keine Spannung, die „Splitter” sind in der Plazierung teilweise austauschbar. Die Figuren bleiben blaß. Manchmal hat man den Eindruck, als wolle Bernd-Lutz Lange denen, die das nicht erlebten, erklären (nicht wirklich erzählen, bzw. darüber nachsinnen), wie es war. „Erklären” aber hat Literatur selten gut getan. Im letzten Kapitel „Die Sprache der Eltern” erinnert der Autor an sächsische Wendungen zu allen Lebenslagen, die er verschwunden meint. Hier fiel mir auf, um wieviel lebendiger und gestalteter das Buch geworden wäre, hätte er die Figuren seiner Kindheit wirklich sprechen lassen und in Handlung verwickelt. Aber das wäre ein anderes Buch geworden.

Für Leser, deren Kindheit in den späten vierziger Jahren lag, wird es in vielen Passagen ein Wiedererkennen und „Ach ja!” geben. Ihnen sei das Buch für den Nachttisch (gibt es den noch?) empfohlen: Mit der Erinnerung kommen die Träume.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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