Rezension von Waldtraut Lewin


 

Die Überwindung der Schwerkraft oder Ein Engel
im Bett des Winzers

Elizabeth Knox:
Der Engel mit den dunklen Flügeln
Roman.
Aus dem Englischen von Dorothee Asendorf.
Limes Verlag, München 1999, 381 S.
 

Warum, in drei Teufels Namen, schreibt eine Neuseeländerin über eine Weinbaugegend im Burgund des vorigen Jahrhunderts? Ja, ich weiß, die machen da drüben inzwischen auch einen ganz anständigen Wein, und ihre Sachkenntnis ist enorm. Aber es ist ja kein Buch über Weinbau, oder das nur sehr nebenbei. Wie kommt diese Person, von der mir der Verlag nichts, aber auch gar nichts außer dem Namen, einem diffusen Allerweltsfoto und der Tatsache mitteilt, daß sie aus Neuseeland (wo denn da?) stammt - wie kommt die also dazu, diese Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, wie sie europäischer gar nicht sein kann?

Ich komme nicht drum herum, die Story zu erzählen, auch wenn ich weiß, daß ich nur Kopfschütteln ernten werde.

Im Jahr 1808 geht der junge Winzersohn Sobran Jodeau mittsommers ins Freie, um sich aus Liebeskummer zu besaufen. Im Weinberg trifft er einen Engel, mit dem er sich - ausgenommen seine Teilnahme am napoleonischen Krieg - jedes Jahr an gleicher Stelle, gleicher Welle wiederbegegnet. Er erzählt ihm, was passiert ist, trinkt mit ihm erlesene Weine und philosophiert über Gott und die Welt. Irgendwann kriegt er mit, daß dieser Xas kein Engel des Lichts ist, sondern einer von der gefallenen Sorte, Hauptwohnsitz Hölle, wenn auch mit ein paar Privilegien ausgestattet. Er darf hin und her reisen und sich sogar einen Garten anlegen. Sobran wird fast verrückt darüber, daß sein Engel vom Bösen kommt, versöhnt sich aber schließlich mit ihm. Beide haben eine Liaison.

Wegen eines Verstoßes gegen die göttliche Ordnung (nicht wegen der Love-Story!) wird Xas vom Erzengel Michael schwer verwundet. Er kann nur gerettet werden, indem Luzifer persönlich, herbeizitiert von Sobrans anderer Liebe, der Gräfin Aurora vom Landgut Vully, seinem Gefolgsmann die Flügel aboperiert und ihn zu einem immer noch Unsterblichen, aber Erdgebundenen macht. Nach Jahren der Trennung findet Sobran seinen Engel wieder, engagiert ihn als Hauslehrer seiner zahlreichen Kinder und unterhält mit ihm und seiner Gräfin Aurora weiterhin ein Liebesverhältnis. Irgendwann stirbt er in Xas` Armen, hinterläßt eine schwerreiche, aber durch Morde und Wahnsinn dezimierte Familie - und den Weinberg aller Weinberge.

So was von Blödsinn, nicht wahr? So eine Mischung von Trivialität und Bizarrerie! Es ist die hinreißendste Geschichte, die ich in der letzten Zeit gelesen habe.

Da muß wohl erst jemand von ganz außen und doch ganz kenntnisreich daherkommen, vom anderen Ende der bewohnten Welt, um ein Buch von solcher Tiefe und gleichzeitig solcher Leichtigkeit zu machen, so engelhaft poetisch, menschlich üppig und satanisch gut.

Nein, das ist kein Jahrhundertwerk. Beileibe nicht. Es ist nur etwas so erfrischend anderes. Etwas so sehr Erzähltes. Es ist gleichzeitig Familiensaga und Kosmogonie, Weltenmythos und Winzergezänk, europäische Geschichte über fast ein ganzes Jahrhundert und Infrastruktur eines Frankreichs, daß ich so deutlich und überschaubar lange nicht mehr vor meinen Augen gehabt habe. Als Zugabe bekommt man mit diesem bäuerlich-patriarchalischen Sobran Jodeau eine so machtvolle und verletzliche, so barocke und sinnliche Männerfigur, daß einem das Herz aufgeht - aber das Drumherum ist auch nicht von schlechten Eltern.

Irgendwann fragt man sich - wie die Gräfin Aurora, die zunächst Atheistin ist, dann aber, angesichts der Begegnung mit solchen Hoheiten wie Luzifer persönlich, vorsichtig von dieser Haltung Abstand nimmt -, ob Elizabeth eigentlich gläubig ist, ob für sie diese Dinge wie Himmel, Hölle und Zwischenreich Wirklichkeit sind - um dann sofort zu der einzig möglichen Antwort zu gelangen: Ja, sie sind Wirklichkeiten. Sie sind die Wirklichkeiten der poetischen Fiktion, die anhält, so lange, bis ich die letzte Seite gelesen habe. Sie sind das einzige wahrhaftige Imperium der Welt, das der Phantasie.

In diesem Reich geht es - wie sollte es anders sein - mit der Genauigkeit, dem pittoresken Detailreichtum, dem sprachlichen Können der Meisterschaft zu. Zu Anfang ist mir das, vor allem, wenn es um die Beschreibung der sexuellen Nöte der unreifen Winzerjungen geht, ein bißchen zu heftig. Aber das bringt wohl nur die Geschichte so mit sich, die später an keinem Punkt die Grenzen des Notwendigen überschreitet. Die Knox nimmt kein Blatt vor den Mund, aber sie „ergeht” sich auch nicht im erotischen Detail, und die Liebesszenen zwischen Sopran und seinem Engel sind von subtilster Klarheit, ohne je pornographisch zu werden.

Es gibt Dinge, die schlechthin entzücken. Zum Beispiel, wie die Autorin die Bewegungsabläufe eines Wesens mit zwei Beinen, zwei Armen und zwei Flügeln beschreibt. Überhaupt diese Flügel. Wie sie sind, wie sie riechen, sich anfassen, sich bewegen.

Alles ist einfach, poetisch und genau. Regen weht über die Oberfläche des Flusses, als würde er mit einem Reisigbesen gekehrt. Ruß im Rauchfang entfaltet sich wie eine Blume, die begossen wird. Ach ja, und Humor hat die ganze Sache auch noch. Sobran bittet seinen Engel, Napoleon zu besuchen. Der schüttelt den Kopf. „Ich habe Napoleon meinerseits nichts zu sagen. Ich könnte ihm nur die Ausreden eines Kanoniers seiner grande armée überbringen ...”

Allen Schrecken und alle Schönheit, alle Crudité und Absurdität findet der Leser, der das Kapitel „1835 - Fleuraison - Das Blühen des Weinstocks” aufschlägt. Das ist das, wo die Sterblichen-Unsterblichen-Konfrontation kulminiert, wo der Fürst der Unterwelt erscheint, um Xas von seinen Flügeln zu kastrieren. Das ist lachhaft, primitiv, aufregend, sensibel, furchtbar und zutiefst poetisch.

Nicht immer weiß ich die dem Weinbau und der Weinkennerschaft gewidmeten Kapitelüberschriften einzuordnen. Sicher bedeuten sie was für den Gang der Handlung, für die Dramaturgie oder die Stimmung. Vielleicht müßte man sich nur mehr Mühe geben. Aber die Helden dieses Buches geben sich auch immer nur soviel Mühe, wie es in ihren Grenzen möglich ist. Vielleicht muß nicht alles erklärt und erklärbar sein.

Im letzten Kapitel, das im Jahr 1997 spielt, besucht der Unsterbliche Xas noch einmal den berühmten Weinberg seines sterblichen Geliebten Jodeau, auf den Spuren seiner Vergangenheit, auf den Spuren seiner Liebe. Nichts ist, wie es war, die blutvollen Geschichten sind nur noch Schatten, „Destillate”. Schwarzweiß statt Farben. Und der Vergleich „wie” hinkt. Denn nichts auf der Welt kann so sein wie das andere.

Als der unsterbliche Grenzgänger schon flügellos auf Erden wallt, wirkt er mit bei einem Flugexperiment mit einem Gleiter - gleichsam als Experte im Fliegen und in der Überwindung der Gravitation. Die Schwerkraft holt ihn ein, sie „zieht am Körper wie eine hungrige Flamme, die nach Brennstoff züngelt”. Die Überwindung der Schwerkraft - das ist der Versuch dieser unmöglichen, dieser verzweifelten und heiteren, immer wieder von neuem ansetzenden Liebe zwischen dem Engel und dem Menschen.

Das Buch endet mit Xas' Erinnerung, wie er den ohnmächtigen, den erdenschweren Sobran auffing - zu Beginn ihrer Bekanntschaft. „Ich habe mich zwischen dich und die Schwerkraft gestellt. Unmöglich.”

Unmöglich ist das ganze Buch. Es schwebt auf Engelsflügeln für die kurze Zeit der Lektüre. Und wir mit ihm. Was will man mehr?


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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