Rezension von Christel Berger


cover  

Skurril, genau und mitleidlos

 

Kerstin Hensel: Gipshut

Gustav Kiepenheuer Verlag, Leipzig 1999, 227 S.

 

So ganz geheuer geht es im Brandenburgischen auch in unserer Gegenwart nicht zu, und nach dem Willen der Autorin wohl vor allem am und um den Siethener See beim Dorf Nudow. 1950 hat die 16jährige Veronika Dankschön dort direkt im See einen Jungen geboren, den sie Hans nannte. Und fast fünf Jahrzehnte später werden Anna Fricke und Paul Norg auf der Suche nach einem erloschenen Vulkan ebendort wiederum Seltsames erleben. Damit hätten wir die vier Hauptgestalten des Romans: Veronika Dankschön und den Sohn Hans Kielkropf, Anna Fricke und Paul Norg. Vieles, was ihnen begegnet, ist schon recht seltsam und nicht ganz von dieser Welt, aber mehr noch ziemlich bekannt: beispielsweise das tägliche Einerlei der bei der Konsumgesellschaft beschäftigten Veronika Dankschön und ihre kärglichen Lebens-Extras wie die Wichtelei in der Brigade zur Weihnachtszeit. Während Veronika mit Mühe einen Brief entziffert, wird der Sohn Hans Klassenbester. Aber nicht etwa durch Intelligenz oder Kreativität - seine Nachbeterei von Lehrsätzen ist nur die andere Seite der Beschränktheit seiner Herkunft. Zeitungen haben es schon dem Baby angetan, und später wird Hans einer der wenigen sein, die all das glauben, was in ihnen steht. Er darf Journalistik studieren und wird Redakteur der Zeitung der Konsumgenossenschaft Nudow, nachdem er in anderen Tätigkeiten ein ums andere Mal seine Unfähigkeit bewiesen hat und weggelobt wurde. Die Wende wirft ihn aus seiner Lebensbahn, und er, der schon vorher an wesentlichen Stationen seines Lebens mit Gips zu tun hatte, wird als ABM-Kraft in der Gipsformerei des Berliner Stadtschlosses mitwirken - wie er glaubt - „am Aufbauwerk der Zukunft”, indem er heimlich sein in Gips gegossenes Antlitz neben die Gipsköpfe der Weltgeschichte geschmuggelt hat.

Ein „echter” Kerstin-Hensel-Roman: skurril, phantasievoll, genau im Detail (wunderschön die Reisebeschreibung durch die Sowjetunion) und in einer Sprache, die den Reichtum unserer Lexik mit Präzision verbindet. Die Wörter gurgeln und wispern, und gleich daneben findet sich eine Textstelle, die aus einem Lexikon oder Handbuch für alle möglichen Disziplinen (Geologie, Biologie) entnommen sein könnte. Und wie vielschichtig (nicht einfach doppelbödig) das Ganze ist! Wenn Anna und Paul bohren und die Liebe entdeckt haben und der Leser selbst entscheiden kann, was von beiden gerade beschrieben wird. Oder die Bilder, die Zeichen werden - etwa, wenn Hans bei seinem jeweiligen Vorgesetzten in entscheidender Situation eine Laufmasche bemerkt. Dazu die Fach-Jargons, zum einen die der platten sozialistischen Glaubenslehre und dann auch die neuen der Umschulung.

Kerstin Hensel ist wie meist ohne Erbarmen mit ihren Helden, auch wenn diese vom Schicksal nicht begünstigt wurden wie Veronika oder Anna. Hans - durchaus denkbar in der Tradition des „Simpel”: aus kleinen Verhältnissen, ein Getriebener, der sich durchschlägt - erhält bei ihr eine völlig andere Akzentuierung: Seine „Tumbheit” ist auch die Borniertheit des Systems, dem er sich verschrieben hat. Kerstin Hensel sieht das mitleidlos und hat recht, auch wenn sie - wie mir scheint - manchmal dumm übertreibt (wenn sie beispielsweise das Klischee von der „Jahresendfeier” und dem „Präsentemann” bedient) und in der Beschreibung der Zustände und der Situation ihrer Versager-Helden nicht ein Fünkchen Hoffnung auf andere menschliche Möglichkeiten zuläßt. Hans Kielkropf wird ein großes feuriges Inferno auslösen, denn die „große schicksalsfügende Macht” seines Lebens ergreift ihn noch ein letztes Mal. Kerstin Hensel nennt diese Macht am Schluß des Romans und sagt damit direkt, worum es in diesem verrückten Buch geht: „Die Macht der Lüge und des Verlustes, die Macht der trügerischen Gewißheit, immer auf dem richtigen Weg zu sein, die Macht der 0 Laufmaschen, der Einsamkeit, die Macht des Hasses auf das ewige Kleine.”


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

zurück zur vorherigen Seite