Rezension von Crauss


 

Auf der Suche nach sich selbst
Joachim Helfer: Du Idiot
Roman.
Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/M. 1999, 286 S.

ders.: Cohn & König
Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1998, 232 S.
 

Schabbach 1957: Hermann Simon steht am Fenster, vor seinen Augen liegt ein Stück dämmriger Hunsrücklandschaft. Abschied. Den nächsten Morgen erfahren wir in Bildüberblendungen: Hermann auf einem Feldweg, im Zug, in einer Großstadtstraße. Der einzige, der ihm auf der Flucht aus seiner Jugend begegnet, ist Glasisch, der Chronist der „Heimat”-Filmserie von Edgar Reitz.

Ganz so einfach wie Hermann wird es Florian König nicht haben. Er ist der antiheldische Erzähler in Du Idiot und Helfers Alter ego. Sein Entschluß steht längst fest, aber erst am Ende des Romans wird er sich auf den Weg hinaus aus der Schwalbacher Muffigkeit wagen. Zunächst sitzt er unentschlossen auf der Treppe seiner Schule. Das Abitur ist bestanden, eine Lebensphase abgeschlossen. Aber wo geht's hin? Um eine Antwort zu finden, muß Florian aufholen, was er bisher versäumt hat, er muß sich seiner selbst bewußt werden, seine Jugend rekonstruieren. Und um sich vor denen zu schützen, die ihm dabei Angst machen, muß er es so tun, als wär's die Jugend eines anderen. Der Roman gibt dem Protagonisten mit der „Du”-Form den nötigen Abstand vor pathetischen Gefühlsausbrüchen. Florian steht zwischen den Welten: Einerseits steigt er seit dem 13. Lebensjahr mit seiner Französischlehrerin ins Bett, die, wie die meisten wollüstigen weiblichen Figuren in der Literatur, Gudrun heißt und mehr an Florian hängt als umgekehrt. („Zum erstenmal registriertest du bewußt, daß dir Gudruns Parfum angenehm war, gerade weil es nichts in dir erregte.”

Denn auf der anderen Seite hat er sich seit der ersten beinbrechenden Balgerei in den „weizenblonden Streuner” und Schulkameraden Thomas verliebt: „Seit jenem Tag ist er an jedem Mittag mit zu dir gekommen. Du hattest seine Nähe nicht gesucht und seine Annäherungsversuche nicht verhindern können; da er dir einmal zugeflogen war wie eine kranke Winterkrähe, die man nicht lieben muß [...] begannst du, dich an seine ständige Anwesenheit zu gewöhnen, [...] tanztest um Thomas herum wie ein verliebtes Mädchen. Deine Gesundung schritt von Tag zu Tag voran.” Thomas macht ihn „krank” und eifersüchtig: „Aufs Glatteis locken lassen wolltest du dich nicht mehr. Natürlich lächeltest du ihn noch manchmal an, etwa, wenn er abends ausgestreckt neben dir auf seiner Matratze lag und Joan Baez hörte und dabei, wie er behauptete, von Mädchen träumte (... vor allem von unerreichbaren aus Film, Fernsehen, Illustrierten).” In der Angleichung an den bewunderten Kameraden ebenso wie im Versuch, einer Peer-group zuzugehören, bemerkt Florian jedoch sehr schnell, daß er eigentlich immer nur sein Ebenbild sucht: „So kehrtest du abends unverrichteter Dinge heim [...], masturbiertest in dein Kopfkissen und versuchtest dabei, ihn zu küssen, dessen Gesicht dir vorzustellen auch in den schwülsten Phantasien dir nun immer schwerer fiel: dich.” Oder: „Worum es am Ende immer geht, ist, sich selbst zu finden: ob nun großartig, bemerkenswert oder nur annehmbar - Hauptsache irgendwie. Und es gelingt am allerbesten, wenn man sich zum Objekt des nächstbesten anderen macht: die Augen schließt und an gar nichts denkt als an sich, sich, sich, sich, sich ...”

Auf der Suche nach sich selbst probiert er das Übliche aus: Er verwandelt das mütterliche Schlafzimmer in einen Ballettsaal, sich in eine Ballerina vor dem Spiegel, prügelt sich mit Thomas oder schnüffelt an den Liebesbriefen seiner Schwester, „so lange, bis sich auch sein Geruch [der des Verehrers] dir unauslöschlich eingegraben hatte”. Allein Thomas macht ihn süchtig, indem er genau das repräsentiert, was Florian fehlt: die Fähigkeit zu überleben, sich durchzuschlagen, aus einer zerrütteten Familie kommend, auf eigenen Beinen stehen zu können. Damit der Roman nicht in die Nähe einer schwulen Schmonzette gerät, muß Castor in die Unterwelt gestoßen und Pollux durch das Beispiel seines brüderlichen Kameraden geläutert werden: Er sieht mit an, wie Thomas immer mehr verfällt, dem Strich am Frankfurter Bahnhof, harten Drogen, einer HIV-Infektion. Letztendlich bleibt nur der Sturz aus dem Fenster für Florians stärkere, männliche Hälfte und für ihn die Flucht aus der allzuheilen, olympischen Heimatlichkeit im Taunus. Er muß sein Glück in einer Gegend suchen, die ihm fremd erscheint, deren Sprache, deren Bilder andere sind.

Joachim Helfer weiß mit literarischen Referenzen so umzugehen, daß Zitate und Verweise auf andere Texte wiedererkannt werden können, gleichzeitig aber angenehm unaufdringlich wirken. Es reicht aus, wenn der dem Literaturkreis vorsitzende Mitschüler Stefan heißt oder eine Platen-Zeile im Zusammenhang so klingt, als hätte sie der Autor selbst erfunden. Jedenfalls hat er seinen Fichte gelesen: Florian trampt in die Provence, um Abstand zu gewinnen. Vorsichtig deutet sich gegen Mitte des Romans bereits die Fortsetzung von Du Idiot an: „Du steigst in die mit Satin gefütterte Hose (ein ähnlich abartig geiler Kitzel wie seinerzeit, wenn du im Zimmer deiner Schwester einen ihrer Schlüpfer anprobiert hast...) und fährst in das Jackett - nicht ohne vorher die Visitenkarte eines Pierre Cohn aus dem Ärmel zu ziehen, in dem du sie sicherheitshalber versteckt hast ...” Herr Cohn ist es, dem König Florian im Süden begegnet - zufällig. Cohn ist Galerist und Guru, Cohn ist bereits in den Vierzigern und so etwas wie ein väterlicher Liebhaber, der es Florian in den nächsten sieben Jahren ermöglichen wird, in Satin und Seide zu leben, der es ihm aber auch möglich macht, Mängel im Selbstbewußtsein mit kunstgeschichtlicher Bildung zu kompensieren. Es sind die sieben Jahre seit dem Abitur, auf die Cohn & König zurückschaut, diesmal dichter an Florian als Figur und daher nicht mehr so fixiert auf ihn allein.

Helfer gelingt es, mit teilweise arg verschachtelten, seitenlangen Hypotaxen, die den Leser in einer Spitzkehre aus der Bahn werfen, im nächsten Serpentinentritt aber bereits wieder einfangen - es gelingt ihm prächtig, mit einem wallenden Sprachfluß das Sehnen und Seelenleiden eines Pubertierenden darzustellen, ohne allzusehr auf die Homosexualität des Protagonisten abzuheben („schwul” oder ähnliche Worte fallen in beiden Romanen erst etwa ab der Hälfte des Buches, alles andere versteht sich über intime Andeutungen). Das Buch wird einer der wichtigsten Initiationsromane der nächsten Jahre sein, ist aber alles andere als eine Coming-out-Geschichte. Vielmehr spiegelt sich Florians Selbstliebe. Was bei Cohn & König später leicht maniriert wirkt, ist in Du Idiot noch bereitwilliger Humor und dialogische, sehr ironische Situationskomik. Der Roman war ursprünglich als Trilogie geplant und findet hoffentlich nach Cohn und König eine Fortsetzung. Denn Helfer verliert nicht an sprachlicher Intensität, wenn er eine knappere Syntax wählt und den Ort der Handlung nunmehr ausstreckt auf die westlichen USA, Südfrankreich und Paris.

Cohn & König setzt an den beiden Eckpunkten an, die Du Idiot vorgibt: Florians Begegnung mit Pierre in einer französischen Hafenstadt und einem Ferienaufenthalt beim Vater in Los Angeles um seinen 13. Geburtstag herum. Beides wird überblendet, immer wieder, bis es zu der Unterwegs-Geschichte gerinnt, die Florians innewohnende Orientierungslosigkeit zwar weiterhin zum Grundtenor hat, jedoch erst im letzten Drittel die rastlose Atmosphäre der „road movies” übernimmt, wo er seinen Partner verläßt und wieder auf der Suche ist nach seinem Spiegelbild. Die Beziehung zu Pierre Cohn, die weite Welt, können ihm kein eigenständiges Leben mehr, kein selbstbestätigtes Bewußtsein ersetzen. Pierre hat vorgegeben, was Florian gierig gelernt und aufgenommen hat. Er ist nicht bloß ein Vorzeigejungchen in besseren Galeristenkreisen, er bedeutet für Pierre ein zweites Leben. Aber Pierre weiß, daß er in Florian nur projiziert, was er als Jugendlicher versäumt hat, und daß sein Freund sich emanzipieren wird von immer größeren Geschenken und Sehenswürdigkeiten, um endlich einen eigenen Ort zu finden und nicht mehr aus Erinnerungen anderer zu leben, sondern durch das Erleben einer eigenen Geschichte. „Im Kern ging es ihm wohl nur darum, in die Peripherie zu kommen, an den Rand, ins Abseits”, wohin schon Thomas geraten war, „dorthin, wo keine historischen Kulissen die hinfälligen Mythen Nation und Individuum wachhielten. [...] Er wollte unter gesichtslosen Schlafbehausungen lustwandeln, die ihm gestatten würden, wieder in die Dämmerungszone einzutreten, in der er aufgewachsen war.” Und richtig, es führt den Ausreißer aus einer wiederum zu heilen Welt zunächst durch fremde Betten, dann nach Schwalbach/Taunus in den Schoß der Mutter zurück: „...ein entlaufener Hans im Glück, der die Fesseln seines Märchens sprengt, obwohl er spürt, daß sie das Beste waren, was das Leben für ihn bereithielt.” Aber schlußendlich sehen sich Cohn & König am Ort ihrer ersten Begegnung wieder, es ist ihr „Hochzeitstag”. Es ist ein Happy-End, das der Geschichte nicht besonders steht und ihr die eigentümliche Stimmung nimmt, die bis dahin über zwei Buchlängen absolut gefesselt hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
www.berliner-lesezeichen.de

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