Rezension von Monika Melchert


 

Einblicke, die Durchblicke erlauben
Christoph Hein:
Bruch. In Acht und Bann. Zaungäste. Himmel auf Erden
Stücke.
Aufbau-Verlag, Berlin 1999, 192 S.

Man sollte, nach vielen erfolgreichen Prosabüchern, Christoph Hein unbedingt wieder als Dramatiker zur Kenntnis nehmen. Dazu kann neben der Theaterbühne dieser neue Band mit vier Stücken aus den neunziger Jahren das Seine leisten. Eines der Stücke, „Bruch”, Schauspiel in vier Akten, wird übrigens gegenwärtig in Berlin vom „theater 89” mit Ekkehard Schall in der Hauptrolle gespielt.

Gut spielbar für kleine und kleinste Ensembles, erscheinen sie alle, neben „Bruch” die Komödie „In Acht und Bann” und die zwei kurzen Lustspiele „Zaungäste” sowie „Himmel auf Erden”. Diese sind Blicke auf jeweils einen winzigen Ausschnitt aus der Alltagsgeschichte der DDR, Einblicke, die Durchblicke erlauben und so in der Summe etwas Spezifisches entstehen lassen, das erhellend und erheiternd gleichermaßen wirkt.

In „Bruch” wird dem Schicksal eines alten Arztes nachgegangen, des weltbekannten Chirurgen Theodor Bruch, der nun, wenige Jahre nach Kriegsende, von der Berliner Charité entlassen und in den Ruhestand geschickt wird, ohne daß dieser imstande wäre, die Vorgänge zu begreifen, die ihn ins Aus stellen. Vorgeführt wird die Tragik eines Menschen, der zeit seines Lebens ohne aufzuschauen für das Wohl anderer tätig war und schließlich, bereits lebensfremd geworden, ohnmächtig zusehen muß, wie er von Jüngeren beiseite gedrängt wird, die ihm weder fachlich noch moralisch das Wasser reichen können. Indem er sich von unseriösen Geschäftemachern zu dem unrealistischen Plan verführen läßt, eine eigene riesige Klinik, die „Bruch-Klinik”, aufzubauen, beraubt er sich endgültig seiner Legitimität. Bruch kann und will nicht eingestehen, daß er nicht mehr in der Lage ist zu operieren, und als er es auf Drängen einer jungen Patientin, die nur ihm ihr Leben anvertrauen will, unter völlig unzulänglichen Bedingungen im Badezimmer seiner Villa dennoch versucht, muß das zwangsläufig zur Katastrophe führen.

Dies ist lediglich der Kern der Handlung in einem Stück, in dem es um vielerlei Varianten von menschlichen Haltungen geht, um Treue wie um Schwindel, um Betrug und Selbstbetrug. Christoph Hein hat hier in Umrissen die Geschichte von Ferdinand Sauerbruch nachgezeichnet. Sie ist jedoch von einer über das individuelle Schicksal hinausreichenden Sinngebung, geht es doch um solche grundlegenden und hochkomplizierten Vorgänge wie die Kraft, im richtigen Moment loszulassen, sein eigenes Nicht-mehr-Genügen annehmen zu können, aber auch um das immer wiederkehrende Phänomen der Undankbarkeit derer, die nach einem kommen und ohne zurückzublicken sich selbst in den Vordergrund spielen. Es ist zugleich die Frage der Ablösung von aufeinanderfolgenden Generationen, aus der vor allem dann Großes hervorgehen kann, wenn sie vorausgegangene Leistungen aufzunehmen vermag.

Höhepunkt des Bandes ist aber zweifellos die Komödie „In Acht und Bann”, gewissermaßen die Fortsetzung von Christoph Heins berühmt gewordenem Stück „Die Ritter der Tafelrunde”. Es sind nun zehn Jahre vergangen, und die einstigen Regierenden, die Mächtigen des „Artus-Reiches”, sitzen jetzt in Gewahrsam, der Zeiten harrend, da sich wieder alles ändern könnte und sie erneut die Macht übernehmen würden. Es war der glücklichste Griff des Autors, aus diesem Stoff eine Komödie zu machen. Waren „Die Ritter der Tafelrunde” ganz und gar auf die End-Zeit der DDR zu beziehen, so ist diesmal zwar auf den ersten Blick die Parallele zum Geschick unserer Ehemaligen getroffen: Gefängnis, fehlende Reue, mangelnde Einsicht in den tatsächlichen Ablauf der Geschichte. Und doch ist es mehr: „In Acht und Bann” bietet zugleich das Porträt beider deutscher Republiken, der gescheiterten DDR und der scheinbar lebendigen Demokratie der BRD, der Diktatur anderer Art also: der des Geldes. In der „Kabinettssitzung” des selbsternannten geheimen Gremiums versichern sich Lancelot und Keie gegenseitig, man sei ja nun keine Diktatur mehr und könne daher nicht mehr so sorglos die eigenen Vorteile bedienen: „Jetzt haben wir Demokratie. Da müssen wir uns alle streng an die Spielregeln halten. Der Kleine Morus schreibt, daß die Diskussion über die Gehälter und Diäten der Volksvertreter nie an der ersten Stelle einer Tagesordnung stehen darf.” Wobei der Kleine Morus quasi der Knigge für Regierungsführung ist. „Jedenfalls ist es nicht demokratisch, schreibt der Kleine Morus, immer zuerst an sich zu denken. In einer Demokratie spricht man über die finanzielle Ausstattung der Volksvertreter erst dann, wenn alle Sparmaßnahmen abgeschlossen sind, schreibt er. Und auch dann habe man es möglichst diskret auszuhandeln.”

Isoliert von ihnen ist Artus selbst, vor dem seine Mitstreiter jetzt ausspucken, weil er nicht widerrief, sondern zu dem steht, was er zu verantworten hatte, das „Artus-Reich”. Und schließlich Parzival, den die anderen bei jeder Begegnung im Gefängnishof „Verräter!” titulieren, weil er als einziger Artus nicht wie einen Aussätzigen meidet. Parzival indes hofft, auch dem neuen Staatswesen unentbehrlich zu sein ob seiner logistischen Fähigkeiten beim Kriegführen (und Kriege werden eben auch hier geführt). Artus bestätigt ihm: „Ja, ein Mann wie du ist eigentlich unersetzbar. Solche wie dich braucht man in jedem System.” Die drei „Kabinettsmitglieder” bereiten den Tag X ihrer Rückkehr an die Macht vor, indem sie schon immer ihre Gesetze ausarbeiten. Sie sind diejenigen, die aus der Geschichte nichts, aber auch gar nichts gelernt haben und wohl auch nicht lernen können und jeden Tag erneut „zur Tagesordnung” übergehen. Orilus: „Die Notstandsgesetze sollten wir aber nicht im Gesetzblatt veröffentlichen. Das bringt nur Ärger. Das sollte vorerst geheim bleiben. Wenn es soweit ist, wird es das Volk schon merken.” Die Mischung der Systemmerkmale ist besonders komödiantisch. Orilus und Lancelot schreiben derweil eifrig an ihren Memoiren, die sie bald einträglich zu vermarkten gedenken. Natürlich bleibt das Stück nicht bei einem makaber-lustigen Geplänkel stehen, sonst wäre es nicht von Christoph Hein. Dafür beschäftigt den Autor die Frage der Hoffnung viel zu sehr, die nach einer möglichen Aussicht. Artus: „Sind wir wach? Schlafen wir? Haben wir alles nur geträumt? Dort liegt die Rüstung, was bedeutet das? Ist unser Leben ein Traum, Parzival? Waren wir Gefangene, als wir frei waren? Und sind wir frei, da wir gefangen sind?”

Die beiden anderen Stücke - „Zaungäste”, 1968 in Leipzig spielend vor dem Abriß der Paulikirche und in schönstem Sächsisch gehalten, „Himmel auf Erden” hingegen mit Anflügen von Mecklenburger Platt - sind eher Miniaturen, aber nichtsdestoweniger theaterwirksame Sujets. Auch in diesen Lustspielen ist Selbsttäuschung der Protagonisten eine der zentralen Kategorien. Nur ist es diesmal die der „kleinen Leute”. Es sind hier vielleicht nicht die großen Gegenstände von Christoph Heins Theaterstücken aus früheren Jahren („Cromwell” etwa oder „Passage”), doch detailgenaue Beobachtungen (beispielsweise von den Widrigkeiten des Arbeitstages eines armen Stasi-Mannes), Ziselierungen des Alltags auf der Oberfläche von DDR-Geschichte. Christoph Hein war dabei alles andere als ein Zaungast.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 02/2000 © Edition Luisenstadt, 2000
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