Rezension von Gisela Reller



Ein fast vergessener Schriftsteller?

Juri Rytchëu: Im Spiegel des Vergessens
Aus dem Russischen von Charlotte und Leonhard Kossuth.
Unionsverlag, Zürich 1999, 288 S.

 

Die Handlung dieses Buches - ich scheue mich, es einen Roman zu nennen - hat zwei Ebenen. Da ist Juri (Sergejewitsch) Gemo, ein junger Tschuktsche, und da ist Georgi Sergejewitsch Nesnamow, Redakteur eines russischen Provinzblattes. Damit der Leser ja nichts in den falschen Hals kriegt, ist im Buch Gemos Part normal, Nesnamows kursiv gesetzt. Was verbindet die beiden so ungleichen Menschen? Nesnamow hatte als junger Mann einen Probetext für die Literaturseite eines Lokalblattes geschrieben. Daraufhin wurde er eingestellt und blieb auf diesem Posten fast fünfzig Jahre lang, bis zum Erhalt der Rente, die mit Perestroika und Glasnost zusammenfiel. Der Held dieses Probeartikels ist der Tschuktsche Gemo aus Uëlen, einem vierzehntausend Kilometer entfernten Dorf an der Beringstraße. Seinen Helden hatte der angehende Provinzredakteur nicht einmal persönlich kennengelernt. In Rytchëus Buch klopft 1949 nach einer langen Reise quer durch den Kontinent der neunzehnjährige Gemo an das Portal der Leningrader Universität an, weil er dort studieren will. Ganz wie in des Autors wirklichem Leben. Juri (Sergejewitsch) Rytchëu (sprich: Ryt-che-u) erzählte mir dieses Erlebnis 1983 in Leningrad. Als ihn der Pförtner fragte, ob er Abiturient sei, antwortete er naiv: „Nein, Tschuktsche.” Da mußte er in jener Nacht auf einer Bank an der Newa schlafen.

Der informierte Leser wird bald merken, daß es sich bei diesem Buch um eine (kaum) chiffrierte Autobiographie handelt. Die im Buch genannten Personen sind zumeist real - ob Wissenschaftler oder Schriftsteller, Vorfahren und Verwandte Gemos (in Wahrheit Vorfahren und Verwandte des Autors) wie Mletkyn, Rytchëus Großvater, der ein großer Schamane war und von den Bolschewiki erschossen wurde.

Rytchëus Buch wird als Doppelgänger-Roman gehandelt. Aber ein Doppelgänger ist doch ein Mensch, der dem anderen zum Verwechseln ähnlich sieht. Das aber ist bei dem Tschuktschen Gemo und dem Russen Nesnamo - beide Namen bedeuten in der jeweiligen Sprache „unbekannt” - wahrlich nicht der Fall. Und auch sonst haben der bald berühmte Autor und der Provinzredakteur kaum etwas gemein. Aber seit fünf Jahrzehnten, seitdem Nesnamow über Gemo schrieb, besteht eine Art Seelenverwandtschaft zwischen ihnen, sie denken aneinander, sie träumen voneinander, und sie suchen sich, ohne sich zu finden. Der Rentner Nesnamow reist Mitte der neunziger Jahre extra ins hektische St.Petersburg, in der Hoffnung, seine sonderbare Doppelexistenz aufzuspüren.

Im Spiegel des Vergessens sinniert Gemo (also Rytchëu), ob er ein Buch über das Doppelgänger-Thema schreiben solle: „Wenn er das einfach als literarischen Kunstgriff nahm, würde es der schöpferischen Phantasie große Möglichkeiten öffnen.” Und: Rytchëu hat dieses Thema als Kunstgriff genommen. Als literarischen Kunstgriff? „Jetzt, da man über alles schreiben konnte, aber es unmöglich war, in Rußland gedruckt zu werden”, hat der Autor das Schreiben, scheint's, verlernt. Wo ist seine poetische Sprache geblieben (in Wenn die Wale fortziehen), wo sein packender Stil (in Menschen von unserem Gestade, Abschied von den Göttern)? Der Autor klärt uns statt dessen immer wieder über Ereignisse auf, die wir alle selbst aus den Medien kennen: „Überall brodelten politische Leidenschaften, Republiken trennten sich von der Union, Rußland wurde für unabhängig erklärt, es kam zu Putschen, zu Konfrontationen, die in Schießereien mündeten, Panzer rückten in Moskau ein, und Tschetschenien wurde zum Kriegsschauplatz.” Und auch Politunterricht gibt Rytchëu dem Leser an vielen Stellen seines Buches.

Juri Rytchëu, seit 1949 in Leningrad/St. Petersburg ansässig, klagt, weil er im eigenen Land ungedruckt, „ein fast vergessener Schriftsteller” ist: „Heute braucht der Leser andere Bücher: Abenteuer, Sciencefiction, Sex ...” Aber wie ist nach solchem Lamento diese Lobhudelei über die Menschen im Kapitalismus zu verstehen? „Warum leben sie genau so, wie ich zu leben träumte, wie alle meine Freunde zu leben träumten, ja, alle Sowjetmenschen? Frei, ungezwungen, großzügig! Warum hat diese tausendfach verwünschte, allseitig geschmähte kapitalistische Ordnung den Menschen solche Flügel wachsen lassen und Möglichkeiten geboten, von denen die Unseren nicht mal träumen konnten.”

Ach, dieses Buch ist einfach ein Ärgernis. Und kaum eine Seite, auf der nicht gesoffen wird, was das Zeug hält. Im vorangegangenen Buch Unna (LeseZeichen 6/1998) haben, von den Russen verführt, die einheimischen Tschuktschen und Eskimos auf Tschukotka bis zur Bewußtlosigkeit „übles Wasser” getrunken, in diesem Buch scheint ganz Rußland im Suff.

Sicher ist es hart, als erster Schriftsteller seines zwölftausend Menschen zählenden Volkes nicht mehr wie zu Zeiten der Sowjetunion hofiert zu werden. Rytchëu hat dreißig Bücher geschrieben, wurde in dreißig Sprachen übersetzt, erschien seit 1954 auch regelmäßig auf deutsch.

Ich sehe Im Spiegel des Vergessens als Lebensbeichte eines fast siebzigjährigen Schriftstellers. Juri Rytchëu reflektiert u. a. seinen schriftstellerischen Werdegang, kritisiert seine damalige Anpassung an die Zensur, beklagt den Umgang der Sowjetunion mit den kleinen Völkern, läßt im Zusammenhang mit seinem „Doppelgänger” tiefenphilosophische Gedanken über Gott und die Welt einfließen und hofft, „daß sich das Interesse des Lesers früher oder später wieder echter Literatur zuwenden” wird. Nur, sind seine letzten Bücher echte Literatur? Gerade hat er sein (vorerst?) letztes Buch, den Roman Anna Odinzowa, beendet. Dessen Titelfigur ist eine Ethnographin, die durch eigenes Erleben tschuktschische Bräuche zu erforschen sucht. Es ist dem namhaften Autor von Herzen zu wünschen, daß er darin seine alte Form wiedergefunden hat.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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