Rezension von Christel Berger


„Die Wiederaufrichtung des Menschenbildes” oder Ein Buch mit Schicksal

Nico Rost: Goethe in Dachau
Herausgegeben von Wlfried F. Schoeller
Verlag Volk und Welt, Berlin 1999, 441 S.

Nico Rosts Buch hat wie sein Autor ein Schicksal, das deutsche Geschichte dieses Jahrhunderts auf beklemmende Weise spiegelt: Nach der holländischen Erstausgabe 1946 erschien das Buch 1948 im Verlag Volk und Welt. Das Vorwort von Anna Seghers war ein Beleg langjähriger Freundschaft und zugleich Ausdruck des Respekts und der Hochachtung der Emigrantin vor dem in Nazi-Lagern und Gefängnissen Inhaftierten. Denn das Buch ist eines der ganz seltenen tatsächlichen Tagebücher eines Insassen eines Konzentrationslagers. Nico Rost hat die Notizen in Lebensgefahr auf kleine Zettel und alte Fiebertabellen gekritzelt: Aufzeichnungen eines Holländers, der mit Hilfe seiner Liebe zur deutschen Literatur die deutsche Hölle überstehen, überleben, besiegen will, und es liest sich heute fast befremdlich oder unglaublich, wie intensiv Nico Rost sich mit seiner mühsam beschafften Lektüre verschiedenster Art auseinandersetzt, darüber nachdenkt, Interpretationen versucht. Wie er inmitten von Hoffnungslosigkeit, Barbarei, Tod und Drangsal mit Goethe, Hegel, Hölderlin, Thomas von Aquin, Franz von Assisi, Gustav Landauer gegen die alltägliche Not eines völlig Entrechteten ankämpft, der in jeder Minute mit seinem Ende rechnen mußte, denn die Schikanen der Aufseher warteten überall. Auch davon ist natürlich in diesem Buch die Rede sowie von Schicksalen der Mithäftlinge, vom düsteren Alltag in der Baracke. Zeitweise Insasse im Krankenlager, dann Nachtpfleger und später Revierläufer, erfährt Rost mehr als andere von den Vorgängen auf der Krankenstation, erlebt das Sterben vieler, sieht täglich Leichen, ja Leichenberge - notiert das als Chronist, der es dabei nicht belassen kann: Sein Begriff vom Menschen überhebt sich über das Kreatürliche und Gemeine, das er erlebt. Was Große vor ihm gesagt und gedacht haben, will er bewahren, verstehen, weitergeben, sich daran aufrichten, ein Humanist in dunkler Zeit, ein Don Quichotte, über den zu lächeln oder lachen mir auch nach 50 Jahren nicht gelingt.

Vielleicht war er ein etwas verschrobener Literaturprofessor, Bibliothekar oder Gymnasiallehrer? Zeitzeugen und Freunde haben ihn ganz anders beschrieben: 1896 in Groningen geboren, aus bürgerlichem Elternhaus, brach der Junge frühzeitig mit seinen Eltern, schrieb sozialkritische Erzählungen und hatte seit den zwanziger Jahren als Kulturkorrespondent verschiedener holländischer Zeitungen Kontakte zu Deutschland, zur Internationalen Arbeiterhilfe, zur Marxistischen Arbeiter-Schule. Seit 1933 lebte er wohl vorwiegend in Berlin, war befreundet mit Egon Erwin Kisch, Else Lasker-Schüler, Anna Seghers, Alfred Döblin, Joseph Roth, übersetzte deren Bücher und die von Hans Fallada, Lion Feuchtwanger, Ernst Gläser und anderer. Reisen in die Sowjetunion veranlaßten ihn zu Reportagen, die seine Nähe zu Egon Erwin Kisch zeigten. Er war - so ist es zu lesen - ein Hans Dampf in allen Gassen, ein prächtiger Unterhalter, ein guter Kumpel. Im April 1933 wurde Nico Rost verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen gebracht, mußte jedoch nach drei Wochen auf Grund von Protesten des Auslands wieder freigelassen werden. Er ging nach Brüssel, schrieb u. a. einen Bericht über das Konzentrationslager und weitere Reportagen über zeitgenössische Brennpunkte, half den deutschen Emigranten, wo er konnte, übersetzte, war als Reporter im Spanienkrieg und nahm an den internationalen Schriftstellerkongressen in Paris und Madrid teil, lernte „Gott und die Welt” - u. a. Ernest Hemingway, Dolores Ibarruri, Durruti - kennen. Als die deutschen Truppen in Belgien einmarschierten, beteiligte sich Rost am antifaschistischen Widerstand, übersetzte in dieser Zeit auch Ernst Wiechert und Ricarda Huch, Gottfried Keller, Georg Forster und Georg Christoph Lichtenberg. 1943 wurde er wegen „Zersetzung der Wehrkraft” verhaftet.

Als endlich auch Dachau befreit war, kehrte Nico Rost krank nach Holland zurück, machte aus den vielen kleinen Zetteln sein Buch und suchte den Kontakt zu den alten deutschen Freunden. Er übersetzte unter anderem Das siebte Kreuz, erhielt überhaupt in der späteren DDR Betätigungsfelder: im Kulturbund, seit 1950 im Schriftstellerheim Wiepersdorf. Da hatte er schon die erste Kontroverse - einen Streit um sein Buch - hinter sich. Denn das sofort bei Erscheinen gelobte Goethe in Dachau erhielt im Oktober 1948 von der Feuilletonchefin der „Berliner Zeitung”, Susanne Kerkhoff, plötzlich herbe Kritik. Weil er polnische Kapos oder Barackenälteste als antisemitisch, ungerecht und brutal beschrieb, deutete die Kritikerin das als Verstoß gegen den Internationalismus und als antipolnische Tendenz. Es ging also um große politische und äußerst sensible Probleme, nicht nur etwa zwischen Polen und Deutschen, es ging auch um die Rolle von Barackenältesten und Kapos überhaupt. Stephan Hermlin und andere reagierten prompt mit einer Verteidigung Nico Rosts, aber damit war im maßgeblichen Hintergrund noch lange nicht alles in Ordnung. Die Staatssicherheit observierte den Autor wegen „Verdachts auf Spionage”, das Zentralkomitee der SED ließ eine interne Stellungnahme zum Buch erarbeiten, die auf Distanz zu bestimmten Passagen des Buches ging, und die holländische KP übersandte auf Anfrage der Bruderpartei in der DDR eine Stellungnahme zu Nico Rost, die vor allem Mißtrauen ihm gegenüber bescheinigte. Seine Tätigkeit in Belgien während der deutschen Besetzung müsse unbedingt untersucht werden. In ebendieser Zeit des Mißtrauens und Intrigierens hinter den Kulissen bereist Rost Ungarn und andere östliche Republiken, sein Buch erscheint im Tschechischen, Russischen und Slowakischen. Im Bettina-von-Arnim-Archiv in Wiepersdorf fühlt er sich am rechten Platz, hat große Pläne, die alle über Nacht zunichte werden. Im März 1951 wurde Nico Rost verhaftet - laut Bericht von Zeugen - in Handschellen abgeführt. Er wurde aus der DDR ausgewiesen, ging nach Holland und mußte noch Jahre um sein in Wiepersdorf gebliebenes Hab und Gut kämpfen, was er schließlich nur teilweise zurückerhielt. In Briefen beteuerte er seinen alten Freunden, er habe sich nichts zuschulden kommen lassen und sich nicht geändert. Er bat um neue Bücher, doch die meisten Kontakte brachen ab, nicht zuletzt, da sich Nico Rost in seinen politischen Bekenntnissen seit 1956 nicht mehr „moskautreu” verhielt.

Sein Buch Goethe in Dachau erscheint 1999 nunmehr zum fünftenmal in Deutschland: 1948 bei Volk und Welt - mit der beschriebenen Resonanz. 1949 nahm es der Münchner Verleger Willi Weismann in Lizenz und hatte große Schwierigkeiten mit dem Absatz des Buches, 1978 versuchte es der Hamburger Literaturverlag Konkret, indem er es zum Bestandteil seines bald scheiternden Großprojektes „Bibliothek der verbrannten Bücher” machte. Fischer übernahm es 1983 als Taschenbuch. Der Erfolg war spärlich bis deprimierend.

Die neueste Ausgabe - erneut bei Volk und Welt - enthält außerdem einen großen Dokumententeil, der die Debatte um das Buch publiziert. In einer großen Reportage über seinen erneuten Besuch in Dachau 1955 kritisiert Nico Rost den damaligen mißlichen Umgang der Deutschen mit dieser Stätte des Grauens und Erinnerns. 1960 endlich hielt Rost die Gedenkrede „Opfer für eine bessere Zukunft” auf dem Ehrenfriedhof Dachau, die mit einem Appell an die deutsche Jugend endet, auch 1960 dem Anliegen des Buches treu: „Ihr, deutsche Jungen und Mädchen, seid unsere Hoffnung. Hier, angesichts unserer Toten, appellieren wir an euch! Wir rufen euch auf, mit uns weiterzukämpfen für Frieden und etwas mehr Glück für alle: mit Mut und Zuversicht mitzuhelfen, daß das Ideal unserer Toten Wirklichkeit werde. Mit uns Dachauern unentwegt und unerschrocken weiter an dem zu arbeiten, was einer eurer am Galgen gestorbenen Widerstandskämpfer, Helmuth von Moltke, genannt hat: ´Die Wiederaufrichtung des Menschenbildes´.”

Der Herausgeber des Buches, Wilfried F. Schoeller, hat die Dokumente zusammengestellt, sorgfältig recherchiert und ein ausführliches, interessantes Nachwort verfaßt.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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