Rezension von Bertram G. Bock



Die Sehnsucht nach Veröffentlichung

Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis
Roman.
Aus dem Russischen von Christa Vogel.
Diogenes Verlag, Zürich 1999, 288 S.

Manchmal freut man sich, wenn der Protagonist eines Romans mal keinen Spleen hat, kein ausgefallenes Hobby oder sonstige Eigenheiten, die einem selbst im Leben nur in Ausnahmen - wenn überhaupt - begegnen. Der Held dieses Romans, Viktor mit Namen, ist jedoch ein Mann mit Eigenheiten - einer, der in seiner Wohnung einen Pinguin hält. Aber ist das Spleen oder eher russische Wirklichkeit? Viktor nämlich hat den Pinguin vom Kiewer Zoo übernommen, als der aus Geldmangel für die Tiere nicht mehr sorgen konnte. Wie auch immer, der Lesbarkeit des Romans schadet das nicht, doch den Verdacht, daß der Pinguin so etwas wie der gute alte Deus ex machina ist, wird man nicht los. Schließlich tapst der Pinguin mit aller Regelmäßigkeit über die Seiten, wird x-mal gefüttert, schaut x-mal um die Ecke und erfreut sich x-mal an den Ausflügen in den Schnee oder in das eiskalte Wasser. Gut, er ist indirekt dafür verantwortlich, daß Viktor letztendlich seinen Kopf aus der immer enger werdenden Schlinge ziehen kann, doch die Frage stellt sich, ob Kurkow wirklich gerade einen Pinguin dafür benötigte oder ob er es nicht etwas unauffälliger - um nicht zu sagen eleganter - hätte motivieren können.

Aber damit wäre die „Mängelliste” des Romans schon abgearbeitet, denn das, was sonst noch passiert, oder eben auch nicht, hat Hand und Fuß und ist mit bemerkenswerter Ruhe und Unaufgeregtheit erzählt. Die Story, die durchaus komplex, aber nicht kompliziert ist, besitzt einige Reize. Dazu gehört auch die Tätigkeit Viktors. Als erfolgloser Autor, der zwar den Wunsch verspürt zu schreiben, aber nur wenig aufs Papier bekommt, plagt ihn die Sorge, wie er sich und seinen Pinguin Mischa über die Runden bringen soll. Und deshalb ist er, als er von einer großen Zeitung gefragt wird, ob er für sie nicht etwas Besonderes schreiben könnte, nicht abgeneigt. Allerdings will man von ihm keine Reportagen oder Hintergrundberichte, sondern Nekrologe, also Erinnerungstexte über jene meist berühmten Leute, die gestorben sind. Nun sterben auch in Rußland nicht jede Woche so viele berühmte Leute, als daß Viktor von seinen Veröffentlichungen leben könnte. Aber mit der Redaktion ist ausgemacht, daß er auf Vorrat schreibt. Und so hat er noch zu Lebzeiten der Leute die Möglichkeit, von ihnen selbst Auskunft zu erhalten. Zu Beginn ist das eine reizvolle Aufgabe, und Viktor verfaßt einen Nekrolog nach dem anderen, die beim Chefredakteur auch gut ankommen. Mit der Zeit aber macht sich Unzufriedenheit in ihm breit: Er will wie alle Autoren seine Texte veröffentlicht sehen. Einem Bekannten, für den er hin und wieder ebenfalls den einen oder anderen Nekrolog für gutes Geld geschrieben hat, klagt er, nach dem einen und anderen Wodka, sein Leid - nicht ahnend, daß er damit einen Stein ins Rollen bringt. Kurze Zeit später nämlich stirbt die erste Berühmtheit, Viktors Text erscheint und wird allseits beachtet. Zufall?

Es gibt weitere Tote, nicht immer sind es berühmte Leute, aber Menschen, denen Viktor begegnet ist.

Der hilfreiche Bekannte verschafft ihm jedoch nicht nur Aufträge, sondern auch ein Kind. Eines Abends taucht er mit seiner Tochter auf, eröffnet Viktor, daß er für eine Weile untertauchen müßte, und bittet ihn, auf das Mädchen aufzupassen. Warum nicht, sagt sich Viktor, zumal dieser Liebesdienst Geld einbringt. Bald aber wird's problematisch, denn der Vater kehrt nicht zurück. Doch damit nicht genug. Immer öfter sterben nun die berühmten Leute, immer mehr Nekrologe hat Viktor auf Vorrat zu schreiben. Er spürt, daß da etwas nicht stimmt. Bloß was, das vermag er nicht zu ergründen, bis er im Büro des Chefredakteurs eine erschreckende Entdeckung macht: Seine dort im Safe deponierten Nachrufe sind z. T. mit dem Todesdatum der Leute versehen - dem zukünftigen Todesdatum wohlgemerkt ...

Das Besondere dieses Romans ist seine Ruhe, die gemächliche Entwicklung der Ereignisse. Nichts wird überstürzt, auch die dramatischen Situationen entwickeln sich gemächlich. Und so stellt sich bei der Lektüre schon mal die Frage: Wohin will der Autor eigentlich mit der Geschichte? Zügelt man aber seine Ungeduld und läßt sich ein auf die sich leise anbahnenden Ereignisse, dann gerät man allmählich in den Sog eines zwar nicht atemberaubend spektakulären, aber durchweg gut geschriebenen, unterhaltsamen, spannenden Romans, der von einem Mann erzählt, der unabsichtlich zwischen die Räder (vermeintlich?) größerer Mächte gerät. Keine Parabel wird geboten, kein allgemeines Lehrstück, sondern ein Stück Realität - auch wenn sie erfunden sein mag.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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