Rezension von Kathrin Chod



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Aber schön war's doch

 

Niall Ferguson: Der falsche Krieg
Der Erste Weltkrieg und das 20. Jahrhundert.
Aus dem Englischen von Klaus Kochmann.

Deutsche Verlags-Anstalt, Stuttgart 1999, 509 S

 


Was kann es zur Veröffentlichung eines Buches Besseres geben als einen kleinen Skandal.
Dem schottischen Historiker Niall Ferguson gelang dies mit der Behauptung: Hätten die Briten sich 1914 aus dem Krieg herausgehalten, hätte dies nicht nur seine Ausweitung, sondern auch seine Folgen verhindert. So wäre Hitler nicht an die Macht gekommen, Lenin wäre Emigrant in Zürich geblieben, und auch der Zweite Weltkrieg hätte vermieden werden können. Alles, was in diesem Jahrhundert verheerend war, wäre ausgeblieben. Die Briten hätten zwar mit einer von Deutschen dominierten Wirtschaftszone auf dem Festland leben müssen, aber das müßten sie in milderer Form ja jetzt auch. Seine Darlegungen erschienen, und ein Schrei des Entsetzens eilte durch das deutsche Feuilleton. Namhafte deutsche Historiker meldeten Protest gegen die provokanten Thesen des jungen Autors an. Ihm konnte das ganz recht sein, wurde so sein Buch doch gut auf dem Markt eingeführt.

Niall Ferguson sieht im Ersten Weltkrieg die „Urkatastrophe" dieses Jahrhunderts. Davon ausgehend, stellt er viele Fragen neu, die bereits gelöst schienen. War die britisch-deutsche Konfrontation wirklich unvermeidbar? War die deutsche Gesellschaft wirklich militaristischer als alle anderen? Warum setzte die deutsche Führung 1914 auf Risiko? Bedrohte die deutsche Flottenrüstung das britische Empire? Gab es 1914 wirklich die allgemeine Kriegsbegeisterung in den beteiligten Staaten? Warum kämpfen Soldaten?

Ferguson nutzt ein reiches Quellenreservoir, um die gängigen Antworten auf diese Fragen kritisch zu durchleuchten - der Anhang mit Anmerkungen und Quellen umfaßt ca. 100 Seiten. Er geht mit der deutschen wie mit der britischen Politik gleichermaßen hart ins Gericht. Politisches Unvermögen, Inkompetenz und Bruch des internationalen Rechts macht er bei allen beteiligten Staaten aus. Ferguson weist nach, daß die maßgeblichen britischen Politiker sich zu Beginn dieses Jahrhunderts von Deutschland abwandten, da sie es wegen seiner Schwäche nicht als Bedrohung empfanden und daher keine Notwendigkeit sahen, sich zu arrangieren. Das Hauptargument gegen ein durchaus mögliches britisch-deutsches Bündnis sahen britische Politiker demnach nicht in der Angst vor einer deutschen Gefahr, sondern in Problemen mit Frankreich, „unserem Nachbarn in Europa und in vielen Teilen der Welt, und mit Rußland, dessen Grenzen sich in großen Teilen Asiens mit den unseren direkt oder beinahe berührten”. Bemerkenswert findet der Autor die Annäherung an Rußland auch angesichts des Antisemitismus und anderer illiberaler Gepflogenheiten der russischen Regierung. Die deutsche Entscheidung für einen Krieg sieht Ferguson anders als viele Historiker weder in einem Überlegenheitsgefühl noch in Welteroberungsplänen begründet. Letztlich wären die Deutschen überzeugt gewesen, den Rüstungswettlauf verloren zu haben, und befürchteten, immer weiter auf diesem Gebiet ins Hintertreffen zu geraten. Aufgrund politischer und fiskalischer Zwänge konnte Deutschland seine Rüstungsausgaben nicht in dem erforderlichen Maße erhöhen. Mit seinen Verbündeten war es seinen Gegnern 1914 personell im Verhältnis 1:2,5 unterlegen und wäre nicht in der Lage gewesen, dieses Verhältnis künftig entscheidend zu verändern. So gab das Reich 1913/14 3,5 Prozent seines Bruttosozialproduktes für Verteidigung aus, verglichen mit 3,9 Prozent in Frankreich und 4,6 Prozent in Rußland. Aus reiner Unsicherheit habe man so einen Präventivschlag bevorzugt. Ein Griff nach der Weltmacht wäre, so Ferguson, nicht die Absicht gewesen, da die nach dem Eintritt von Großbritannien in den Krieg formulierten Kriegsziele zuvor nicht bestanden hätten. Jedenfalls gäbe es dafür keine Belege. Kennzeichnend für die Haltung führender deutscher Militärs waren eher ein Gefühl der Schwäche und Fatalismus. Moltke: „Wozu, es ist ja doch vergebens.” Falkenhayn: „Wenn wir auch darüber zugrunde gehen, schön war's doch.”

Auf seiten des Vereinigten Königreichs gelang es - nach Fergusons Darstellung - offenbar einem Mann fast im Alleingang, das Land in den Krieg zu treiben. Es war Außenminister Sir Edward Grey. Sein Motiv - notorische Deutschfeindlichkeit, sein Vorwand - die Verletzung der belgischen Neutralität. Dabei ist sich Ferguson sicher: „Hätte Deutschland nicht im Jahre 1914 die belgische Neutralität verletzt, dann würde Großbritannien dies getan haben.”

Bisweilen geht es dem Autor bei der Demontage gebräuchlicher Erklärungsmuster scheinbar um Widerspruch aus Prinzip. Dagegen wäre nun überhaupt nichts einzuwenden, wenn Ferguson auch stichhaltige Beweise für seine Antithesen vorlegen könnte. Beispiel Kriegsbegeisterung: Sicher ist vieles nach 85 Jahren schwierig nachzuvollziehen. Aber ob Karl Liebknecht oder Bertrand Russell wirklich „mehr als eine unbedeutende Minderheit” waren, läßt sich auch anhand der hier vorgelegten Quellen kaum belegen. So nimmt sich etwa eine Zahl von 34 Wehrdienstverweigerern in Großbritannien nicht gerade riesig aus. Auch das Ende des Krieges schildert der Autor - im Gegensatz zur sonstigen Darstellung - etwas verkürzt. Die Zermürbungsstrategie der Entente hätte keinen Erfolg gehabt, und auch die deutsche Kriegswirtschaft war besser organisiert, als man gemeinhin annahm. So blieben als Ursache für den Zusammenbruch der deutschen Westfront der offensichtliche Fehlschlag der Frühjahrsoffensive, Ludendorffs Bitte um Waffenstillstand und mehr Krankheiten bei deutschen Soldaten.

Ungeachtet einiger Einwände, das Buch ist nicht nur brillant geschrieben, es zeigt eine wohltuende Respektlosigkeit gegenüber scheinbar feststehenden Geschichtsbildern und ist- neben Robert K. Massies Die Schalen des Zorns - wohl das anregendste Buch der letzten Jahre über den Ersten Weltkrieg.


Berliner LeseZeichen, Ausgabe 01/00 © Edition Luisenstadt, 2000
www.luise-berlin.de

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